Transformatorische Bildung – Folge 153 „Anthropologische Kategorien und transformatorische Bildung in Bezug auf Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas“

Luca und ich unterhalten uns über den Transformationsprozess bei dem Verlassen der Zeugen Jehovos. Dabei beziehen wir das narrative Interview auf die anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt und Grenzen aus dem Handbuch Pädagogische Anthropologie von Wulf und Zirfas (Hrsg.)

Relevant ist dabei folgende Passage aus dem Handbuch (S. 24)

Dann erfolgt ein systematischer Überblick über die anthropologischen Grunddimensionen: Der Mensch ist, und diese Dimension stand historisch lange im Schatten des Geistes, ein körperliches Wesen. Der Körper ist Ausgangspunkt, Zielpunkt, Gegenstand und Mittel pädagogischer Einwirkungen und hinsichtlich seiner Sinnlichkeiten und Praktiken in den Blick zu nehmen (Kapitel 2: Körper). Der Mensch ist wei- terhin, und das wurde bislang auch betont, ein soziales Wesen. Die Selbstbeziehung und die Weltbeziehung werden wesentlich über soziale Beziehungen vermittelt und entwickelt, was u. a. mit dem Umstand zusammenhängt, dass die sozialen Erfahrungen ontogenetisch schon vor der Geburt von so zentraler Bedeutung für den Menschen sind (Kapitel 3: Soziales). Der Mensch ist sodann ein zeitliches Wesen, das eine phylogenetische und eine ontogenetische Geschichte hat; zudem muss es seine Zeit und die seiner Mit- menschen in irgendeiner Form „zeitigen“. Auch die Thematik der genetischen, sozialen, individuellen etc. Zeiten und der Umgang mit ihnen ist ein konstitutives Thema der Pädagogischen Anthropologie (Kapitel 4: Zeit). Das gilt auch für den Raum: So wie sich der Mensch von der Zeit her verstehen lässt, so auch vom Raum. Er schafft sich – mehr oder weniger – pädagogische Räume und er versteht sich selbst in räumlichen Kontexten. Dabei lassen sich unterschiedliche Räumlichkeiten thematisieren, z. B. architektonische, psychische oder soziale (Kapitel 5: Raum). Der Mensch ist ein Kulturwesen, wobei hier unter Kultur die Gesamtheit von Lebensformen und mentalen Grundlagen einer Gruppe verstanden wird. Für die anthropologische Kulturalität spielen vor allem performative, mimetische und symbolische Dimensionen eine wichtige Rolle. Die Kultur dient dem Menschen zur Gestaltung des Überlebens wie des guten Lebens, als auch dem Verständnis seiner selbst und der Welt (Kapitel 6: Kultur). Sodann lässt sich der Mensch auch als subjektives Lebewesen verstehen, als Individuum mit einer einzigar- tigen Biographie. Erfahrungen, Reflexionen und Wertmaßstäbe haben einerseits einen radikal individuellen Kern und verweisen doch andererseits auf die sie ermöglichen- den allgemeinen Strukturen der Gesellschaft, der Normativität oder der Macht (Kapitel 7: Subjekt). Und schließlich ist der Mensch ein Wesen, das sich durch Grenzziehungen auszeichnet, es zieht Grenzen im Humanen (etwa zwischen gesund und krank oder zwischen weiblich und männlich) und es zieht Grenzen des Humanen (indem es Differenzen zu Gott, dem Tier oder der Maschine markiert), die auch ihre pädagogischen Effekte haben (Kapitel 8: Grenzen).

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Luca über das Interview FR214 (Florian) – Folge 153 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Luca das narrative Interview mit Florian*, der aus der religiösen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgetreten ist. Die Erzählung seines Ausstiegs und der anschließenden Umorientierung wird als exemplarischer Fall eines transformatorischen Bildungsprozesses interpretiert, wobei das methodische Instrumentarium der pädagogischen Anthropologie von Wulf und Zirfas zentral wird: Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt, Grenzen) dienen als Raster zur systematischen Deutung der tiefgreifenden biografischen Umbrüche.

Zugleich fließen Theorien von Foucault, Butler und Althusser zur Anrufung, Disziplinierung und Subjektivierung mit ein, wodurch der Bildungsprozess nicht nur als individuelles Erleben, sondern als machtförmig strukturiertes Werden sichtbar wird.


1. Absolute Realität und soziale Einbettung

Florian beschreibt die Welt der Zeugen Jehovas als seine „absolute Realität“ – ein Ausdruck für die Totalität der religiösen Ordnung, die alle Lebensbereiche durchdringt: Erziehung, Bildung, Sozialleben, Zeitstruktur und moralisches Selbstverständnis.

  • Soziales: Freundschaften waren ausschließlich innerhalb der Gemeinschaft erlaubt. Kontakte zur „Welt draußen“ galten als gefährlich. Kindergarten, Sportvereine, weiterführende Bildung wurden unterbunden. Das soziale Feld ist streng kontrolliert – die Welt ist binär in „drinnen“ und „draußen“ geteilt.

  • Körper: Sexualität war tabuisiert, körperliche Intimität streng reglementiert. Bei Abweichungen drohten Sanktionen bis hin zum Ausschluss. Der Körper wird als Ort der Normierung und Disziplinierung sichtbar.

  • Zeit: Der Alltag war stark durch Gebetszeiten, Versammlungen, Predigtdienst strukturiert. Auch schon Kinder waren Teil der „Verkündigung“, mussten Stunden dokumentieren – ein Beispiel frühkindlicher Performativität.

  • Raum: Die Gemeinschaft bildet einen exklusiven Handlungsraum – auch psychisch und symbolisch. Der Kontakt zur „Welt“ außerhalb wird minimiert. Der imaginäre Raum des Selbst war durch biblische Narrative bestimmt.

  • Kultur: Die Bibel als kulturelles Zentrum. Kultur wird ausschließlich religiös vermittelt. Andere kulturelle Angebote (z. B. Feste, säkulare Literatur) sind ausgeschlossen.

  • Subjekt: Florian beschreibt ein tiefes Gefühl des Fremdseins mit sich selbst. Subjektivität ist nicht selbstgesetzt, sondern wird durch biblische Normen „von außen“ definiert. Eigenes Begehren wird als falsch empfunden.

  • Grenzen: Die Abgrenzung zwischen „gut“ (in der Gemeinschaft) und „böse“ (außerhalb) strukturiert alle Wahrnehmungen. Auch Grenzen von Geschlecht, Intimität, Moral und Subjektivität sind durch die religiöse Ordnung vorgezeichnet.


2. Anrufung und Disziplinierung (Butler/Foucault/Althusser)

Tim und Luca untersuchen, wie sich Anrufungen im Sinne von Judith Butler im Interview rekonstruieren lassen. Zwei Formen werden analysiert:

  • Interne Anrufung: Florian erlebt sich als Adressat einer moralischen Norm – als jemand, der „ein guter Zeuge“ zu sein habe. Anerkennung gibt es nur bei Regelkonformität.

  • Externe Anrufung: In der Schule wird Florian zum Außenseiter – durch Kleidung, Verhalten, Feste, die er nicht mitfeiert. Diese Anrufungen (z. B. Mobbing) erzeugen eine doppelte Exklusion.

Diese Anrufungen strukturieren nicht nur das Verhalten, sondern formen das Subjekt: Florian übernimmt die Sichtweise der Anderen auf sich selbst. Seine Subjektposition entsteht durch Anerkennungsdefizite – ein Prozess, der sich später im Ausstieg radikal umkehrt.


3. Transformation und Bildungsprozesse

Der Transformationsprozess beginnt während der Ausbildung, als Florian erstmals positive Rückmeldungen außerhalb der Glaubensgemeinschaft erhält. Entscheidende Wendepunkte sind zwei gescheiterte Ehen, die zur Infragestellung der religiösen Ordnung führen.

  • Emotion: Erste Zweifel, Erfahrungen von Ohnmacht, Trauer, aber auch Erleichterung beim Austritt.

  • Praxis: Kontakt mit neuen sozialen Gruppen, Aufbau eines neuen Lebens mit Partnerin und Kindern, neue Alltagsroutinen.

  • Theorie: Reflexion über Religion, Moral und Erziehung. Distanzierung von religiösen Institutionen, Entwicklung eines eigenen Werteverständnisses.

In dieser triadischen Bewegung vollzieht sich eine Neuordnung des Selbst – nicht abrupt, sondern als allmähliche Loslösung und Reorganisation.


4. Anthropologische Kategorien als Analyseinstrument

Tim und Luca betonen, wie die anthropologischen Kategorien dabei helfen, den umfassenden Charakter der Transformation zu erfassen. Besonders prägnant wird dies im Bereich:

  • Subjekt: Florian beschreibt, dass er sich heute nicht mehr durch äußere Normen definieren lässt. Zwar ist er nicht „überzeugt“ von Festen wie Weihnachten, aber er feiert sie für seine Kinder – ein performativer Akt neuer Subjektivität.

  • Kultur: Während er sich von Religion distanziert, übernimmt er Elemente der Mehrheitskultur (z. B. Feiertage), jedoch nicht affirmativ, sondern als leiblich-symbolische Geste für seine Familie.

  • Zeit/Grenzen: Der Bruch mit der Vergangenheit ist auch ein generationaler Bruch: Die eigene Familie ist verloren; neue Bezüge müssen erst hergestellt werden – über eine veränderte Zeitwahrnehmung und neue Grenzverhältnisse.


5. Methodische Überlegungen zur anthropologischen Bildungsforschung

Zum Abschluss diskutieren Tim und Luca, wie aus dieser Form der Analyse eine anthropologische Bildungsforschung entstehen kann. Drei Aspekte werden hervorgehoben:

  1. Narrative Interviews ermöglichen den Zugang zu subjektiven Bildungsprozessen, die in der Sprache geronnen sind.

  2. Die Kombination von transformatorischer Bildungstheorie, Subjektivierungstheorie (Butler/Foucault) und anthropologischen Kategorien eröffnet ein mehrdimensionales Analysefeld.

  3. Der Ansatz fördert eine sensibilisierte Wahrnehmung für Biografien, in denen sich kulturelle Ordnungen, Machtbeziehungen und Subjektentwürfe verdichten.