Sofia und ich unterhalten uns über die Bedeutung des Reisens für Bildungsprozesse. Dabei beziehen wir uns auf das Interview mit Anton* und mit Ashley*. Die Lebensgeschichte von Ashley haben wir bereits in dem Podcast Folge 123 analysiert. Also Theoriereferenzen benutzen wir Wilhelm von Humboldt und Waldenfels in der Lesart von Ruprecht Mattig und Leopold Klepacki und Jörg Zirfas.
Aufsätze der Autoren sind im Sammelband: “On the beaten Track. Zur Theorie der Bildungsreise im Zeitalter des Massentourismus” (J.B. Metzler 2022) erschienen. Besonders relevant ist für unsere Analyse der Begriff der Abständigkeit.
“Ästhetische Bildung erscheint in diesem Sinne als Eröffnen von kulturellen Abständen der Wahrnehmungen, um neue sinnliche Ressourcen zu entdecken. Ästhetische Identität erscheint in diesem Sinne eher als ein kultureller Dialog, ein sinnliches Kraftfeld, ein virtueller Explorationsraum, mithin als ein Medium, das in Aus-Einandersetzung bleibt. Wir können hier von einem abständigen Ich des Reisenden sprechen, das nie ganz bei sich oder auch nicht beim Anderen oder Fremden ist. Und die Kunst der Bildungsreise liegt schließlich dementsprechend darin, diesen Schwebezustand zu ermöglichen.” (ebd. S. 112)
Ein Podcast zum Wohnen und Reisen Folge 42 ist mit Patrick Vetter enstanden.
Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Sofia über die Bildungsbedeutung des Reisens – Folge 156 (GPT)
In dieser Folge thematisieren Tim und Sofia die Frage, wie sich Reiseerfahrungen auf Bildungsprozesse auswirken können. Grundlage der Analyse sind zwei narrative Interviews – mit Anton*, einem jungen Mann, der durch die Arbeit seiner Eltern im Ausland aufwuchs, und mit Ashley*, deren Kindheit von langen Aufenthalten in verschiedenen afrikanischen Ländern geprägt war. Ashley wurde bereits ausführlich in Folge 123 besprochen; die Analyse wird nun durch den Vergleich mit Antons Geschichte vertieft.
1. Theoretische Bezugspunkte
Zentrale Referenzen der Folge sind:
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Wilhelm von Humboldt, der die Bildung als „höchste und proportionierlichste Ausbildung aller Kräfte zu einem Ganzen“ versteht – ermöglicht durch „regsame, mannigfaltige und freie Wechselwirkung mit der Welt“;
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die Theorie der ästhetischen Abständigkeit nach Zirfas;
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sowie Bernhard Waldenfels’ Konzept der Fremdheitserfahrung, insbesondere in der Lesart von Mattig und Klepacki (On the Beaten Track, J.B. Metzler, 2022).
In diesen Konzepten wird Bildung als ein ästhetisch-sinnlicher, weltbezogener, reflexiver und dialogischer Prozess gefasst. Der zentrale Begriff der Abständigkeit verweist auf eine Schwebehaltung zwischen Vertrautem und Fremdem, aus der heraus sich Bildungsprozesse entfalten können.
2. Interview mit Anton: „Reisen ohne Berührtheit“
Anton, 19 Jahre alt, lebte durch die Tätigkeit seiner Eltern im Auswärtigen Amt in verschiedenen Ländern (u. a. Istanbul, Hanoi, Shanghai). In der Retrospektive berichtet er jedoch wenig über Fremdheitserfahrungen oder Transformationen seines Selbst- oder Weltverhältnisses. Seine Zeit in Shanghai war stark durch eine deutschsprachige Schule geprägt, die kulturell wie institutionell an Deutschland angelehnt war. Kontakte zur lokalen Bevölkerung blieben aus, Freizeitaktivitäten fanden im schulischen Rahmen statt.
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Emotion: Distanz, Routine, wenig Berührtheit.
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Praxis: Schule, Fußball im deutschen Umfeld.
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Theorie: Kaum Reflexion über Kultur, Sprache oder gesellschaftliche Unterschiede.
Eine einzige Szene – eine Reise in die Innere Mongolei, wo der Zugang beschränkt war und der Eindruck entstand, man solle nur „das Bild sehen, das China zeigen will“ – deutet auf eine Diskrepanzerfahrung hin. Hier äußert Anton erstmals Irritation und ein Gefühl der Inszenierung, was als ästhetische Abständigkeit gelesen werden kann. Dennoch bleibt die Resonanz auf diese Erfahrung gering.
3. Interview mit Ashley: „Fremdheit als Bildungsimpuls“
Im Kontrast dazu steht Ashleys Biografie: Sie wuchs in verschiedenen Ländern Afrikas auf, erlebte dabei strukturelle Armut, Ungleichheit, aber auch Gastfreundschaft und kulturelle Vielfalt. Diese Erfahrungen führten zu engagierten Haltungen gegen Rassismus, für Umweltschutz und Gerechtigkeit. Ashley reflektiert ihr Selbst- und Weltverhältnis explizit, auch mit Bezug auf westliche Vorannahmen und die koloniale Geschichte.
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Emotion: Irritation, Faszination, moralischer Impuls.
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Praxis: Politisches Engagement.
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Theorie: Reflexion über globale Ungleichheit und eigene Privilegien.
Ashleys Bildungsprozess entspricht in hohem Maße dem, was Waldenfels als Fremdheitserfahrung beschreibt: Ein passives Widerfahren, das zur aktiven Selbstbefragung führt. Zugleich ist ihre Erzählung durchzogen von Momenten der Abständigkeit, die ein „abständiges Ich“ im Sinne Zirfas’ sichtbar werden lassen.
4. Vergleichende Analyse: Bildungsreise und ihre Bedingungen
Tim und Sofia diskutieren die Unterschiede im Bildungspotenzial von Reisen:
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Anton erlebt zwar Ortswechsel, aber kaum Begegnung. Seine Erfahrung bleibt kulturell abgeschottet. Bildungsrelevante Prozesse im Sinne von Abständigkeit oder Fremdheit sind kaum erkennbar.
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Ashley erlebt dagegen mehrfach Grenzüberschreitungen, Konfrontationen mit dem Anderen, moralische Ambivalenzen. Sie verarbeitet diese Erfahrungen reflexiv, wodurch eine Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses sichtbar wird.
Reisen allein – so das Fazit – sind nicht per se bildend. Entscheidend ist die Art der Begegnung mit dem Fremden: ob sie zur Irritation führt, ob sie reflektiert wird, und ob sie Veränderungen in der Perspektive oder im Handeln bewirkt.
5. Bildung als Schwebezustand: Ästhetische Abständigkeit
Ein zentrales Ergebnis der Folge ist die Differenzierung zwischen Fremdheitserfahrung (Waldenfels) und ästhetischer Abständigkeit (Zirfas). Während Waldenfels’ Fremdheit eine existentielle Erschütterung meint, betont Zirfas die Möglichkeit einer spielerischen, reversiblen Reflexion. Diese Schwebe zwischen Nähe und Distanz, zwischen Aneignung und Andersheit, ist der Kern der ästhetischen Bildungsreise.
In Ashleys Erzählung lässt sich dieser Zwischenraum besonders deutlich ausmachen. Bei Anton hingegen bleibt er weitgehend unrealisiert, was nicht als Defizit, sondern als ein anderer Erfahrungsmodus zu begreifen ist.