Transformatorische Bildung – Folge 161 „Auf der Suche nach der eigenen Geschechtsidentität“

Laura und ich unterhalten uns über ein narratives Interview (FR449), indem Lea* ihre Transition vom Jungen zur Frau beschreibt. Wir gehen auf die Theorie von Judith Butler ein und besprechen dann die zentralen Aspekte der anthropologischen Bildungsforschung von Transformatorischer Bildung, der Trias von Emotion, Praxis und Theorie, den anthropologischen Kategorien Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen und der Performativität.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Laura zur Interviewanalyse FR449 (GPT)

In dieser Folge des Podcasts Transformatorische Bildung sprechen Tim und Laura über das narrative Interview FR449, in dem die junge Frau Lea* ihre Transition vom als Junge geborenen Kind zur Frau reflektiert. Das Gespräch entfaltet sich entlang zentraler theoretischer Linien – insbesondere Judith Butlers Theorie der Performativität und Anrufung sowie der anthropologischen Bildungsforschung, die auf Konzepte transformatorischer Bildung, rhetorische Figuren, die Trias Emotion–Praxis–Theorie und anthropologische Kategorien zurückgreift.

Einführung in das Interview und thematische Rahmung

Laura berichtet, wie ihre Gruppe sich für das Interview mit Lea* entschied – einer jungen Frau, die sich im Alter von etwa 19 Jahren als trans erkannt und geoutet hat. Die Wahl fiel auf diese biografische Erzählung, da sie einerseits eine starke Transformationsgeschichte darstellt und andererseits gesellschaftlich hochrelevant ist. Im Zentrum steht Leas Selbsterkenntnis, dass ihr bei der Geburt zugewiesenes männliches Geschlecht nicht mit ihrem erlebten Selbst übereinstimmt. Im Interview schildert Lea* ihre Kindheit, erste Irritationen während der Pubertät, das Aufkommen einer tiefen Verstimmung in der Corona-Zeit und schließlich das konversionsartige Moment während eines Urlaubs in Italien, in dem ihr klar wird, dass sie trans ist.

Theoretischer Fokus: Judith Butler

Laura betont zwei zentrale Begriffe bei Judith Butler: Anrufung (interpellation) und Performativität. Die Anrufung durch soziale Instanzen – ob negativ durch Fremde oder positiv durch Freunde und Familie – formt die Identität der interviewten Person maßgeblich. Die Theorie der Performativität zeigt sich etwa in Leas frühzeitiger, aktive Festlegung auf Pronomen („she/her“) und in ihrem Verhalten (Kleidung, Körpersprache), das ihre Geschlechtsidentität performativ herstellt.

Tim ergänzt diese Aspekte durch eine prägnante Darstellung der Sprechakttheorie (Austin) und erläutert, wie Butler diese erweitert, indem sie zeigt, dass Geschlecht durch performative Akte – wie die Geburtsausrufung „Es ist ein Mädchen!“ – diskursiv erzeugt wird. Eine kritische Diskussion entsteht über Butlers Infragestellung des biologischen Geschlechts (Sex). Während Laura hier gewisse Verständnisschwierigkeiten äußert, wird im Gespräch deutlich, dass Butler die Kategorie „Sex“ nicht leugnet, sondern deren kulturelle Konstruktion betont.

Transformatorische Bildung

Im weiteren Verlauf erläutert Laura, wie sich die Transition von Lea* im Sinne der transformatorischen Bildung (Koller/Kokemohr) verstehen lässt. Leas Krise während der Pandemie – die depressive Verstimmung und Identitätsverunsicherung – wird als Bruch im bisherigen Welt- und Selbstverhältnis interpretiert. Die metaphorische Wendung „wie ein Phönix aus der Asche“ beschreibt den Übergang in ein neues Verhältnis zu sich selbst. Diese bildhafte Sprache ist Ausdruck einer gelungenen biografischen Transformation.

Trias: Emotion – Praxis – Theorie

Die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie, wie sie in der anthropologischen Bildungsforschung entwickelt wurde, strukturiert die Analyse des Interviews:

  • Emotion: Leas frühes Unwohlsein, depressive Symptome, Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.

  • Praxis: Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, das Coming-out, die Inanspruchnahme von Hormontherapie.

  • Theorie: Die bewusste Einordnung des Erlebten unter der Kategorie Transidentität.

Diese Dreigliederung erlaubt eine dichte Beschreibung des Bildungsprozesses auf verschiedenen Ebenen.

Anthropologische Kategorien

Laura benennt die sieben Kategorien nach Wulf/Zirfas (2014) „Handbuch der pädagogischen Anthropologie“: Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Soziales und Grenzen. Sie zeigt auf, wie Leas Erzählung durch diese Dimensionen strukturiert ist:

  • Körper: Der zentrale Ort der Entfremdung und später der Angleichung.

  • Raum: Öffentliche Orte wie Toiletten oder Züge, in denen sie Diskriminierung erlebt.

  • Zeit: Die Corona-Pandemie als transformatorischer Möglichkeitsraum.

  • Subjekt: Die Selbstbeschreibung und performative Festlegung als Frau.

  • Soziales: Die stark unterstützende Rolle von Familie, Freund:innen und Universität.

  • Kultur: Die gesellschaftliche Reaktion auf Transidentität und deren Wandel.

  • Grenzen: Die administrativen Hürden bei der Änderung von Ausweisdokumenten sowie symbolische Grenzüberschreitungen in Geschlechterfragen.

Schlussbetrachtung

Am Ende betont Laura nochmals den Appell von Lea* an die Gesellschaft: mehr Akzeptanz, niedrigere institutionelle Hürden und ein inklusiverer Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt. Das Interview wird als Beispiel eines gelungenen Bildungsprozesses gelesen, in dem eine Person über Sprache, soziale Anerkennung und individuelle Praxis ein neues Welt- und Selbstverhältnis formt. Die performative Kraft der Erzählung selbst wird als Teil dieses Prozesses verstanden.


Transformatorische Bildung – Folge 160 „Und das hat mich total angesprochen und die waren auch alles Alkoholiker.“ Identifikation in AA

Anhand eines Interviews von Fred* über seine Alkoholsucht (FR362) diskutieren Lorenz und ich, inwiefern Identifikationen und Symbolisierungen im Sinne von Lacan zu einen Transformationsprozess auslösen können. Dabei beziehen wir uns auch auf die anthropologischen Kategorien.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Lorenz über das Interview FR362 („Fred“) GPT

In dieser Episode des Podcasts Transformatorische Bildung analysieren Tim und Lorenz gemeinsam das narrative Interview FR362, in dem Fred* über seine langjährige Erfahrung mit Alkoholabhängigkeit berichtet. Das Gespräch thematisiert die strukturelle Dynamik von Suchtbiografien, deren symbolische Rahmung durch Sprache sowie die Rolle von Identifikationsprozessen und subjektiven Umbrüchen im Kontext von Transformation und Bildung. Dabei werden Konzepte der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans mit der anthropologischen Bildungsforschung verknüpft.

Einführung und theoretische Rahmung

Zu Beginn skizzieren Tim und Lorenz die Relevanz des Interviews im Lichte der transformatorischen Bildungstheorie nach Koller und Kokemohr. Diese Theorie geht davon aus, dass Bildungsprozesse durch krisenhafte Fremdheitserfahrungen ausgelöst werden, die eine tiefgreifende Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses erforderlich machen. In Freds Fall ist die Alkoholabhängigkeit sowohl Symptom als auch Ausdruck einer existenziellen Krise. Die Analyse orientiert sich zudem an den drei Registern der Lacanschen Psychoanalyse – Imaginäres, Symbolisches und Reales – sowie an den anthropologischen Kategorien (Zirfas et al.).

Lebensweg und Krisenerfahrung

Fred wächst in der DDR auf, in einem von emotionaler Distanziertheit, Gewalt und Lügen geprägten Elternhaus. Schon früh zeigt sich eine Suchtstruktur: Fernsehen, Essen, später Cannabis und schließlich Alkohol. In der Grundschule erfährt Fred Mobbing, was in seiner Jugendzeit in die Identifikation mit einer „coolen Kiffergruppe“ mündet – eine erste imaginäre Selbstinszenierung, wie Tim herausarbeitet. Diese Identifikationslinie verstärkt sich, als Fred in Beziehungen scheitert, die Vaterschaft nicht bewältigen kann und zunehmend in selbstzerstörerische Alkoholexzesse verfällt.

Der entscheidende Bruch tritt ein, als Fred sich in einem „Loch“ – einer kleinen Wohnung in einer fremden Stadt – vollständig sozial isoliert. Die Erzählung dieses Tiefpunkts markiert eine Grenze, an der das bisherige Selbst- und Weltverhältnis kollabiert. Die Beschreibung des Körpers („der Alkohol macht mich kaputter als das Kiffen – im Kopf und im Leben“) ist Ausdruck eines somatisch und psychisch erfahrenen Zerfalls.

Lacan: Imaginäres, Symbolisches, Reales

Das Gespräch analysiert Freds Geschichte entlang der Lacanschen Trias:

  • Imaginär: Die Identifikation mit dem Bild des coolen Kiffers, später auch mit dem Bild des trinkenden Außenseiters. Der Blick der anderen, z. B. beim Mobbing, wirkt als Form negativer Anrufung (vgl. Butler), die internalisiert wird und zur Selbstdegradierung führt. In Kneipen findet Fred eine soziale Szene, in der seine Sucht normalisiert wird – das Bild des Trinkenden wird stabilisiert und reproduziert.

  • Symbolisch: Der Wendepunkt ist geprägt durch eine sprachlich vermittelte Erfahrung: In den Meetings der Anonymen Alkoholiker hört Fred zum ersten Mal eine neue symbolische Ordnung. Der Satz „Alkoholiker bleiben Alkoholiker – das kann man nicht kontrollieren“ wird für ihn zu einer zentralen Einsicht, die ihm eine neue Form der Selbstbeschreibung ermöglicht. Er übernimmt das symbolische System der Anonymen Alkoholiker – inklusive ihrer Sprache und Narrative – und findet dadurch eine neue, sinnstiftende Positionierung.

  • Reales: Das Reale manifestiert sich als dasjenige, was sich der Symbolisierung entzieht – das traumatische, körperlich erfahrene Leid, die unkontrollierbare Macht des Suchtverlangens. In Freds Erzählung zeigt sich das Reale etwa in den wiederholten Rückfällen, im Gefühl „krank zu sein“ und in der völligen Erschöpfung durch den inneren Kampf. Dieses Reale wird durch die symbolische Ordnung der AA teilweise integriert, aber nie völlig aufgelöst.

Anthropologische Kategorien

Im Verlauf des Gesprächs werden die sieben anthropologischen Kategorien von Zürfers in die Analyse einbezogen:

  • Körper: Der Alkohol zerstört den Körper und entzieht Fred zunehmend die Kontrolle über sich selbst. Diese Erfahrung bildet eine zentrale Voraussetzung für die Transformation.

  • Raum: Die Kneipe als öffentlicher Raum der kollektiven Sucht und das „Zimmerloch“ als Ort der Isolation stehen exemplarisch für das räumlich eingebettete Selbstverhältnis.

  • Zeit: Die Beschreibung einer „Pink Cloud“ – der euphorischen ersten Phase der Abstinenz – verweist auf eine veränderte Zeitwahrnehmung. Der Übergang von der chronischen Wiederholung (Rückfälle) hin zu einer neuen Zeitstruktur der Hoffnung ist Teil des Bildungsprozesses.

  • Soziales: Freds soziale Beziehungen oszillieren zwischen toxischer Zugehörigkeit (Trinkgemeinschaft) und neuer sozialer Integration (AA). Die Wandlung im sozialen Gefüge ist Teil seiner Bildungsbewegung.

  • Kultur: Die Kultur der Anonymen Alkoholiker – mit eigenen Regeln, Ritualen und Sprachnormen – bietet Fred eine neue kulturelle Matrix zur Deutung seiner Biografie.

  • Subjekt: Durch die narrative Struktur des Interviews konstituiert sich Fred als Subjekt, das sich erinnernd, deutend und reflektierend zu sich selbst verhält. Das Subjekt wird hier nicht als stabile Entität verstanden, sondern als Resultat eines gespaltenen, suchenden und sprechenden Prozesses – in Übereinstimmung mit der Lacanschen Subjekttheorie.

  • Grenzen: Die Analyse zeigt deutlich, wie Fred in seinem Leben an psychische, soziale und körperliche Grenzen stößt. Die Grenze markiert zugleich den Punkt, an dem Transformation möglich wird.

Schlussbemerkung

Das Gespräch zwischen Tim und Lorenz demonstriert eindrucksvoll, wie eine psychoanalytisch informierte Lesart narrativer Interviews zur Rekonstruktion tiefgreifender Bildungsprozesse beitragen kann. Die Verknüpfung von Lacans Topologie des Subjekts mit der Theorie transformatorischer Bildung und den anthropologischen Kategorien erlaubt eine vielschichtige Analyse der Erzählung Freds. Sie macht sichtbar, wie sich im symbolischen Aneignen, im emotionalen Durchleben und im praktischen Wandel ein neues Verhältnis zur Welt und zum Selbst ausbilden kann – getragen von Sprache, Begegnung und der Arbeit am eigenen Leben.

Transformatorische Bildung – Folge 158 „Die Geschichte einer Aussteigerin: Leben in den Bäumen“

Im Anschluss an die letzte Episode geht es wieder um die Geschichte einer Aussteigerin. Linnea und ich diskutieren, wie sich das Leben in den Baumhäusern im Hambacher Forst gestaltet (FR422). Wir benutzen die Transformatorische Bildung nach Kokemohr und  Koller sowie die Pädagogische Anthropologie nach Wulf und Zirfas. Dabei hat sich in der Analyse der anthropologischen Kategorien herausgestellt, dass sich in diesem Interview die Erfahrungen entweder in der Kategorie des Körpers und des Raumes oder im Sozialen bündelt. Zudem diskutieren wir den Prozess vor der Trias: Emotion, Praxis und Theorie. Zum Schluss stellen wir kurze Überlegungen dazu an, wie sich das Performative und Imaginäre in den Interviews zeigt und wie sich die Erzählung oder Plot in einem Film gestalten lassen würde.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Linnea über das Interview FR422 („Leben im Hambacher Forst“) – Folge 158 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Linnea das narrative Interview FR422 mit einer Frau, die über ihr Leben als Aktivistin in den Baumhäusern des Hambacher Forsts berichtet. Die Erzählung wird aus der Perspektive transformatorischer Bildung (Kokemohr, Koller) sowie der pädagogischen Anthropologie (Wulf, Zirfas) gedeutet. Die Folge schließt an frühere Episoden über biografische Ausstiege aus etablierten gesellschaftlichen Ordnungen an und thematisiert erneut den Zusammenhang von Umweltengagement, Körpererfahrung, Raumaneignung und Weltdeutung.

1. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektive

Im Zentrum steht die Frage, wie Bildung im Sinne einer Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses in der biografischen Erzählung sichtbar wird. Die Analyse orientiert sich am Konzept der Fremdheitserfahrung (Waldenfels), der Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas et al.) sowie an den anthropologischen Kategorien (Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt, Grenzen).

Ein besonderer Fokus liegt auf dem Vorgang vor der Trias – also jenen unreflektierten, leiblich-emotionalen Bewegungen, die Bildungsprozesse erst in Gang setzen, aber (noch) nicht in bewusste Praktiken oder Theorien überführt sind. Zudem werden abschließend Aspekte der Performativität und Imaginierung alternativer Lebensformen besprochen.

2. Biografischer Hintergrund: Leben im Widerstand

Die Interviewpartnerin erzählt von ihrem entschiedenen Ausstieg aus dem bisherigen bürgerlichen Leben und ihrem Einzug in die Baumhaus-Siedlungen des Hambacher Forsts. Die Entscheidung ist nicht bloß rational oder politisch motiviert, sondern zutiefst leiblich und emotional verwurzelt. Der Wald wird als Raum des Widerstands und der Lebendigkeit beschrieben, das Baumhaus als Ort eines neuen, direkten Weltbezugs – jenseits konsumistischer Routinen.

3. Anthropologische Kategorien: Bündelung von Körper–Raum und Sozialem

In der Analyse zeigt sich, dass sich die Erfahrungen der Erzählerin in zwei zentralen Bündelungskategorien kristallisieren:

  • Körper und Raum: Das Leben in der Baumkrone erfordert körperliche Präsenz, Mut, Verletzlichkeit. Die körperliche Erfahrung des Waldes – Wind, Kälte, Höhe – verbindet sich mit einem neuen Raumverhältnis: Der Wald wird nicht mehr als Naturkulisse erlebt, sondern als erlebter Widerstandsort. Die Bäume sind nicht nur Umgebung, sondern Teil einer symbiotischen Beziehung.

  • Soziales: Die interviewte Person erfährt im Kollektiv der Waldbesetzer:innen ein neues soziales Miteinander – geprägt von Solidarität, Konflikten, geteilten Utopien. Gemeinschaft wird nicht vorausgesetzt, sondern tagtäglich neu ausgehandelt. Diese soziale Praxis steht im Kontrast zur funktionalen Vereinzelung der urbanen Gesellschaft.

Die übrigen Kategorien (z. B. Zeit, Kultur, Grenzen, Subjekt) erscheinen weniger als eigenständige Achsen, sondern sind in den beiden dominanten Dimensionen mitenthalten – z. B. als geteilte temporale Rhythmen oder kulturelle Praktiken des Widerstands.

4. Bewegung zur Trias: Emotion, Praxis, Theorie

Die Analyse legt besonderen Wert auf das, was vor der Trias liegt: Die unbestimmten Impulse, Affekte, Unruhen, die das Bedürfnis nach Veränderung wecken, aber noch nicht sprachlich oder theoretisch greifbar sind. Die Erzählerin beschreibt Momente des „Nicht-mehr-Könnens“ und des „Sich-Rufen-Lassens“, die sich erst im Vollzug des Ausstiegs konkretisieren.

  • Emotion: Erschöpfung und Entfremdung im alten Leben, Faszination und Lebendigkeit im Forst.

  • Praxis: Aufbau der Baumhäuser, kollektive Organisation, direkte Aktion.

  • Theorie: Reflexion über Eigentum, Zerstörung, Nachhaltigkeit, Recht und Gerechtigkeit – oft erst im Nachhinein formuliert.

Diese Bewegung von vordiskursiven Affekten hin zu symbolischer Artikulation ist zentral für den Bildungsbegriff, wie er im Anschluss an Kokemohr verstanden wird.

5. Performativität und Imaginäres

Abschließend diskutieren Tim und Linnea, wie das Leben im Hambacher Forst auch als performative Praxis verstanden werden kann: Die Lebensform selbst ist ein symbolischer Akt, eine Handlung, die gesellschaftliche Ordnungen infrage stellt. Sie erschafft einen alternativen Raum – nicht nur physisch, sondern auch im Imaginären. Der Wald wird so zum Ort der Utopie, zur lebendigen Erzählung eines anderen Lebens.

Die Erzählerin erscheint als Figur einer Heldin, deren Geschichte das Potenzial hat, filmisch erzählt zu werden. Die Narration trägt Züge einer dramatischen Entwicklung: Krise, Aufbruch, Widerstand, Gemeinschaft, Hoffnung. In dieser Struktur spiegelt sich nicht nur ein individuelles Bildungsereignis, sondern auch eine kollektive Imaginationsleistung.

 

Transformatorische Bildung – Folge 157 „Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte“

Carina, Ben und ich unterhalten uns über das narrative Interview mit Anna* (FR413). Sie beschreibt ihren Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte, einem mongolischen Zelt. Vergleich: Wikipedia zur Jurte.
Zu Anfang besprechen wir drei theoretische Herangehensweise an das empirische Material: die transformatorische Bildung nach Koller mit der Analyse rhetorischer Figuren. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas. Und zum Schluss die anthropologischen Kategorien von Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen.
Wir gehen in den darauffolgenden Analyse einzelner Textteile vom Diachronen zum Synchronen vor und besprechen den Verlauf des Interviews mit der Transformationstheorie und der Trias. Als theoretische Referenzen verwenden wir die Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels und das Register des Imaginären und den Prozess der Identifikation nach Lacan. An manchen Stellen zeigen sich auch Anrufungen als “zu junge Mutter” im Sinne von Butlers. Nach dem Durchgang der einzelnen Sequenzen aus dem Interview versuchen wir, die Verlaufsform des Interviews zu bestimmen. Am Ende der Analyse sammeln wir die anthropologischen Kategorien ein, die sich im Aspekt des Raumes bündeln und alle Kategorien verknüpfen. Zum Schluss gehen wir die Performativität der Erzählung in Bezug auf das Buch Erzählende Affen durch und versuchen zu beschreiben, welche Gattung das Interview als Buch oder Film figuriert. Eine Idee war sich zu fragen, welche Ähnlichkeiten und unterschiede die Narration zum klassischen Bildungsroman hätte, zum Beispiel zu Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Carina und Ben über das Interview FR413 – Folge 157 (GPT)

In dieser Folge analysieren Tim, Carina und Ben das narrative Interview FR413 mit Anna*, die von ihrem biografischen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen erzählt. Im Zentrum steht ihre Entscheidung, aus einem als beengend empfundenen bürgerlichen Leben auszubrechen und ein Leben in einer Jurte zu beginnen – einem mobilen, traditionellen Zelt aus der mongolischen Nomadenkultur. Die Erzählung wird aus drei ineinandergreifenden Perspektiven interpretiert: Transformatorische Bildung nach Koller, Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), sowie den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas. Ergänzt wird die Analyse durch die Phänomenologie des Fremden (Waldenfels), Butlers Theorie der Anrufung und Lacans Konzept der Identifikation.


1. Theoretische Rahmung und Methodik

Tim führt zu Beginn des Gesprächs in die drei zentralen methodologischen Ebenen ein:

  • Transformatorische Bildung als Veränderung grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses, ausgelöst durch Fremdheitserfahrungen, sprachlich greifbar in Metaphern, Antithesen und symbolischen Brüchen.

  • Trias Emotion – Praxis – Theorie, die den Bildungsprozess auf leiblich-emotionaler, handelnder und reflexiver Ebene strukturiert.

  • Anthropologische Kategorien wie Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen, anhand derer Bildungsprozesse in ihrer leiblich-symbolischen und sozialen Verankerung analysiert werden können.

Diese Trias bildet den methodischen Leitfaden für die diachrone Analyse einzelner Sequenzen aus dem Interview.


2. Der „Käfig der Normalität“ – Metaphorische Figuration und erste Fremdheitserfahrung

Zu Beginn schildert Anna ihre Kindheit als „behütet“, jedoch geprägt von Langeweile, innerer Leere und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. In der Jugend wächst der Wunsch, „alles anders“ zu machen als ihre Eltern. Der zentrale Ausdruck dieser Phase ist die Metapher des „Käfigs“, der sowohl als rhetorische Figur als auch als anthropologische Kategorie (Raum, Körper, Grenze) interpretiert wird.

Die Antithese „Käfig – Freiheit“ markiert die Spannung zwischen altem und ersehntem Weltverhältnis. Diese metaphorische Opposition wird zum Ausgangspunkt eines transformatorischen Begehrens, das sowohl emotionale Antriebskraft als auch imaginäre Zukunftsprojektion enthält.


3. Fremdheitserfahrung und Identifikation (Waldenfels / Lacan)

Eine prägende Sequenz der Transformation zeigt sich in der Begegnung mit einem Partner, der ein alternatives Lebensmodell verkörpert: Leben im Wald, Selbstbau eines Hauses, Verzicht auf fließendes Wasser und Heizung. Anna beschreibt diese Lebensweise als „total fremd“ und zugleich faszinierend. Diese Ambivalenz des Fremden (Waldenfels) – als beängstigend und zugleich anziehend – wird als Initiationserfahrung gelesen.

Lacan’s Theorie der Identifikation spielt hier eine zentrale Rolle: Der Partner fungiert als Symbolfigur, mit der sich Anna identifiziert. Die Entscheidung, mit ihm zu leben, markiert einen performativen Akt der Aneignung eines neuen Weltverhältnisses. Dies ist kein rationaler Entschluss, sondern ein tiefgreifender Prozess symbolischer Orientierung und Subjektwerdung.


4. Emotion – Praxis – Theorie (Trias)

Der Bildungsprozess entfaltet sich entlang der drei Dimensionen:

  • Emotion: Gefühle von Enge, Neugier, Faszination, Angst und Erregung.

  • Praxis: Erste konkrete Veränderungen im Lebensstil, etwa das Leben in der Jurte, Holzheizen, Rückzug aus der Konsumgesellschaft.

  • Theorie: Reflexionen über das Schulsystem, Kritik an gesellschaftlichen Normen, Entwicklung alternativer Lebenskonzepte.

Besonders deutlich wird die Verschiebung vom Emotionalen zur Praxis durch die progressive Aneignung der Umwelt: vom symbolischen Käfig zur konkreten Jurte als Ort eines selbstgewählten, freien Lebens.


5. Anthropologische Kategorien: Raum als Verknüpfungsachse

Im synchronen Rückblick auf das gesamte Interview zeigt sich eine Bündelung der anthropologischen Kategorien im Aspekt des Raumes:

  • Raum: Der Wechsel vom normierten Wohnraum zum offenen Lebensraum der Jurte ist Ausdruck eines veränderten Raumverhältnisses.

  • Körper: Körperliche Erfahrungen im Wald (Kälte, Feuerholz, Selbstversorgung) prägen das neue Selbstverhältnis.

  • Soziales: Der Kontakt zu Gleichgesinnten in alternativen Lebensgemeinschaften ersetzt die Normstrukturen des familiären Milieus.

  • Zeit: Der Alltag folgt neuen Rhythmen – naturnah, nicht durch Uhrzeit oder Wochenstruktur determiniert.

  • Kultur: Die Interviewpartnerin eignet sich ein anderes kulturelles Skript an – abseits kapitalistischer Lebensentwürfe.

  • Subjekt: Der Wandel führt zu einem neuen Selbstverständnis, das sich narrativ in der Figur der Aussteigerin artikuliert.

  • Grenzen: Die Grenzziehung gegenüber der „alten Welt“ ist zentral – symbolisch, räumlich, sozial und existenziell.


6. Performativität und Imaginäres – Bildungsroman und Erzählfiguren

Am Ende des Gesprächs diskutieren die drei, inwiefern das Interview als Narration gestaltet ist. Der Bezug auf Die erzählenden Affen (Samira El Ouassil, Friedemann Karig) und der Vergleich mit dem Bildungsroman (z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre) verweisen auf die literarische Struktur der biografischen Erzählung:

  • Eine Heldin verlässt das Bekannte,

  • begegnet dem Fremden,

  • erfährt eine Krise,

  • transformiert ihr Selbstbild,

  • und kehrt mit einer neuen Lebensform zurück (die Jurte als symbolischer Ort des „anderen Lebens“).

Die Performativität liegt nicht nur im gelebten Wandel, sondern auch in der sprachlichen Gestaltung der Erzählung, die neue Wirklichkeiten imaginiert und zugleich Wirklichkeit formt.

 

Transformatorische Bildung – Folge 156 „Anthropologische Dimensionen des Reisens diskutiert an zwei Interviews“

Sofia und ich unterhalten uns über die Bedeutung des Reisens für Bildungsprozesse. Dabei beziehen wir uns auf das Interview mit Anton* und mit Ashley*. Die Lebensgeschichte von Ashley haben wir bereits in dem Podcast Folge 123 analysiert. Also Theoriereferenzen benutzen wir Wilhelm von Humboldt und Waldenfels in der Lesart von Ruprecht Mattig und Leopold Klepacki und Jörg Zirfas.

Aufsätze der Autoren sind im Sammelband: “On the beaten Track. Zur Theorie der Bildungsreise im Zeitalter des Massentourismus” (J.B. Metzler 2022) erschienen. Besonders relevant ist für unsere Analyse der Begriff der Abständigkeit.

“Ästhetische Bildung erscheint in diesem Sinne als Eröffnen von kulturellen Abständen der Wahrnehmungen, um neue sinnliche Ressourcen zu entdecken. Ästhetische Identität erscheint in diesem Sinne eher als ein kultureller Dialog, ein sinnliches Kraftfeld, ein virtueller Explorationsraum, mithin als ein Medium, das in Aus-Einandersetzung bleibt. Wir können hier von einem abständigen Ich des Reisenden sprechen, das nie ganz bei sich oder auch nicht beim Anderen oder Fremden ist. Und die Kunst der Bildungsreise liegt schließlich dementsprechend darin, diesen Schwebezustand zu ermöglichen.” (ebd. S. 112) 

Ein Podcast zum Wohnen und Reisen Folge 42 ist mit Patrick Vetter enstanden

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Sofia über die Bildungsbedeutung des Reisens – Folge 156 (GPT)

In dieser Folge thematisieren Tim und Sofia die Frage, wie sich Reiseerfahrungen auf Bildungsprozesse auswirken können. Grundlage der Analyse sind zwei narrative Interviews – mit Anton*, einem jungen Mann, der durch die Arbeit seiner Eltern im Ausland aufwuchs, und mit Ashley*, deren Kindheit von langen Aufenthalten in verschiedenen afrikanischen Ländern geprägt war. Ashley wurde bereits ausführlich in Folge 123 besprochen; die Analyse wird nun durch den Vergleich mit Antons Geschichte vertieft.

1. Theoretische Bezugspunkte

Zentrale Referenzen der Folge sind:

  • Wilhelm von Humboldt, der die Bildung als „höchste und proportionierlichste Ausbildung aller Kräfte zu einem Ganzen“ versteht – ermöglicht durch „regsame, mannigfaltige und freie Wechselwirkung mit der Welt“;

  • die Theorie der ästhetischen Abständigkeit nach Zirfas;

  • sowie Bernhard Waldenfels’ Konzept der Fremdheitserfahrung, insbesondere in der Lesart von Mattig und Klepacki (On the Beaten Track, J.B. Metzler, 2022).

In diesen Konzepten wird Bildung als ein ästhetisch-sinnlicher, weltbezogener, reflexiver und dialogischer Prozess gefasst. Der zentrale Begriff der Abständigkeit verweist auf eine Schwebehaltung zwischen Vertrautem und Fremdem, aus der heraus sich Bildungsprozesse entfalten können.


2. Interview mit Anton: „Reisen ohne Berührtheit“

Anton, 19 Jahre alt, lebte durch die Tätigkeit seiner Eltern im Auswärtigen Amt in verschiedenen Ländern (u. a. Istanbul, Hanoi, Shanghai). In der Retrospektive berichtet er jedoch wenig über Fremdheitserfahrungen oder Transformationen seines Selbst- oder Weltverhältnisses. Seine Zeit in Shanghai war stark durch eine deutschsprachige Schule geprägt, die kulturell wie institutionell an Deutschland angelehnt war. Kontakte zur lokalen Bevölkerung blieben aus, Freizeitaktivitäten fanden im schulischen Rahmen statt.

  • Emotion: Distanz, Routine, wenig Berührtheit.

  • Praxis: Schule, Fußball im deutschen Umfeld.

  • Theorie: Kaum Reflexion über Kultur, Sprache oder gesellschaftliche Unterschiede.

Eine einzige Szene – eine Reise in die Innere Mongolei, wo der Zugang beschränkt war und der Eindruck entstand, man solle nur „das Bild sehen, das China zeigen will“ – deutet auf eine Diskrepanzerfahrung hin. Hier äußert Anton erstmals Irritation und ein Gefühl der Inszenierung, was als ästhetische Abständigkeit gelesen werden kann. Dennoch bleibt die Resonanz auf diese Erfahrung gering.


3. Interview mit Ashley: „Fremdheit als Bildungsimpuls“

Im Kontrast dazu steht Ashleys Biografie: Sie wuchs in verschiedenen Ländern Afrikas auf, erlebte dabei strukturelle Armut, Ungleichheit, aber auch Gastfreundschaft und kulturelle Vielfalt. Diese Erfahrungen führten zu engagierten Haltungen gegen Rassismus, für Umweltschutz und Gerechtigkeit. Ashley reflektiert ihr Selbst- und Weltverhältnis explizit, auch mit Bezug auf westliche Vorannahmen und die koloniale Geschichte.

  • Emotion: Irritation, Faszination, moralischer Impuls.

  • Praxis: Politisches Engagement.

  • Theorie: Reflexion über globale Ungleichheit und eigene Privilegien.

Ashleys Bildungsprozess entspricht in hohem Maße dem, was Waldenfels als Fremdheitserfahrung beschreibt: Ein passives Widerfahren, das zur aktiven Selbstbefragung führt. Zugleich ist ihre Erzählung durchzogen von Momenten der Abständigkeit, die ein „abständiges Ich“ im Sinne Zirfas’ sichtbar werden lassen.


4. Vergleichende Analyse: Bildungsreise und ihre Bedingungen

Tim und Sofia diskutieren die Unterschiede im Bildungspotenzial von Reisen:

  • Anton erlebt zwar Ortswechsel, aber kaum Begegnung. Seine Erfahrung bleibt kulturell abgeschottet. Bildungsrelevante Prozesse im Sinne von Abständigkeit oder Fremdheit sind kaum erkennbar.

  • Ashley erlebt dagegen mehrfach Grenzüberschreitungen, Konfrontationen mit dem Anderen, moralische Ambivalenzen. Sie verarbeitet diese Erfahrungen reflexiv, wodurch eine Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses sichtbar wird.

Reisen allein – so das Fazit – sind nicht per se bildend. Entscheidend ist die Art der Begegnung mit dem Fremden: ob sie zur Irritation führt, ob sie reflektiert wird, und ob sie Veränderungen in der Perspektive oder im Handeln bewirkt.


5. Bildung als Schwebezustand: Ästhetische Abständigkeit

Ein zentrales Ergebnis der Folge ist die Differenzierung zwischen Fremdheitserfahrung (Waldenfels) und ästhetischer Abständigkeit (Zirfas). Während Waldenfels’ Fremdheit eine existentielle Erschütterung meint, betont Zirfas die Möglichkeit einer spielerischen, reversiblen Reflexion. Diese Schwebe zwischen Nähe und Distanz, zwischen Aneignung und Andersheit, ist der Kern der ästhetischen Bildungsreise.

In Ashleys Erzählung lässt sich dieser Zwischenraum besonders deutlich ausmachen. Bei Anton hingegen bleibt er weitgehend unrealisiert, was nicht als Defizit, sondern als ein anderer Erfahrungsmodus zu begreifen ist.

Transformatorische Bildung – Folge 155 „Anthropologische Bildungsforschung? Wie lässt sich die Verarbeitung einer Alkoholsucht mit Hilfe der Pädagogischen Anthropologie analysieren?“

Aysel und ich unterhalten uns über ein narratives Interview mit Nadine*, die ihre Drogen- und Alkoholsucht mit Hilfe der Anonyme Alkoholiker überwindet. Dabei beziehen wir uns auf verschiedene Theorien.

  1. Koller unterscheidet zwischen Welt, Anderen und Selbstverhältnis.
  2. Zirfas zwischen Emotion, Praxis und Theorie
  3. Lacan zwischen Reales, Symbolisches und Imaginäres (RSI)

Dieses kombinieren wir mit den anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt in seinen Grenzen aus dem Handbuch Pädagogische Anthropologie.

Als Frage im Hintergrund steht, inwiefern man in der Kombination aus Pädagogische Anthropologie und transformatorischer Bildung anhand narrativer Interviews eine Anthropologische Bildungsforschung entwickelt werden könnte und welche methodischen Zugänge dazu relevant sein könnten.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Aysel über das Interview mit Nadine – Folge 155 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Aysel ein narratives Interview mit Nadine*, die über ihre langjährige Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie über ihren Genesungsweg mithilfe der Anonymen Alkoholiker berichtet. Im Zentrum steht die Frage, wie sich tiefgreifende biografische Brüche und Heilungsprozesse als Bildungsprozesse im Sinne transformatorischer Bildung rekonstruieren lassen. Zugleich wird diskutiert, wie sich aus der Kombination von transformatorischer Bildung und pädagogischer Anthropologie ein methodischer Zugang zur anthropologischen Bildungsforschung entwickeln lässt.

1. Theoretischer Rahmen: Drei Triaden als Analyseraster

Die Analyse stützt sich auf drei Theorieachsen:

  • Transformatorische Bildung nach Koller (Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis),

  • Trias von Emotion, Praxis, Theorie (Zirfas),

  • Lacans Register RSI (Reales, Symbolisches, Imaginäres).

Diese werden ergänzt durch die anthropologischen Kategorien (Körper, Raum, Zeit, Soziales, Kultur, Subjekt, Grenze), wie sie im Handbuch Pädagogische Anthropologie (Wulf/Zirfas) systematisiert wurden.

2. Nadines Biografie: Von der Leerstelle zur Transformation

Nadine beschreibt eine frühe existenzielle Entfremdung, beginnend mit der Aussage ihrer Mutter, sie sei kein Wunschkind. Dieses Erlebnis markiert einen biografischen Bruch, den sie mit dem Gefühl „nicht dazuzugehören“ verbindet. Dieses Gefühl zieht sich durch ihre Jugend und wird zur prägenden Phantasie ihres Welt- und Selbstverhältnisses – ein fixiertes Phantasma im Sinne Lacans.

Ihr Weg in die Drogenszene beginnt früh: Sie konsumiert ab 13/14 Jahren Alkohol und Drogen, arbeitet später als DJ in der Partyszene. Der Drogenkonsum wird dabei zu einem imaginären Instrument, mit dem sie versucht, das Gefühl der Isolation zu kompensieren und ein alternatives Selbstbild als „coole, beliebte Frau“ zu erzeugen.

3. Lacan: RSI in der Analyse

  • Imaginäres: Nadine identifiziert sich mit dem Bild einer starken, begehrenswerten Frau in der Partyszene. Alkoholiker sind für sie zunächst „Assis“, Drogenkonsumenten hingegen „cool“. Das zeigt die Macht der Bilder und Zuschreibungen in der Identifikation.

  • Symbolisches: Erst in den Meetings der Anonymen Alkoholiker beginnt sie, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Sprache eröffnet ihr neue Deutungsmuster und soziale Ordnungen. Das Sprechen selbst wird zur symbolischen Praxis, die das Imaginäre unterbricht.

  • Reales: Das Reale manifestiert sich in Erfahrungen, die sich dem Symbolischen entziehen – körperliches Leiden, Kontrollverlust, das Erleben als „Substanz eingefahren“. Diese Momente sind traumatisch, unbenennbar, aber dennoch zentral für die Transformation.

4. Trias von Emotion, Praxis, Theorie

  • Emotion: Scham, Einsamkeit, das Gefühl „nicht gewollt“ zu sein.

  • Praxis: Partyleben, DJ-Karriere, Substanzkonsum, später Meetings bei den AA.

  • Theorie: Reflexion über ihre Biografie, über Sucht, über das Verhältnis zur Familie und zu sich selbst – insbesondere im Rückblick.

Diese Trias strukturiert den Bildungsprozess als Bewegung von affektiver Dissoziation über konkrete Krisenpraktiken hin zur narrativen Integration und Deutung.

5. Anthropologische Kategorien

Die Erfahrungen Nadines lassen sich durch die anthropologischen Kategorien differenzieren:

  • Körper: Der Körper ist Ort der Sucht, des Begehrens und der Abstinenz. Auch der Schwangerschaft kommt eine transformatorische Bedeutung zu.

  • Raum: Clubs, Partyszene, die Meetingsräume der AA – Räume konstituieren den Wandel des Weltbezugs.

  • Zeit: Die Erzählung gliedert sich deutlich in Vorher-Nachher, markiert durch Übergänge, Rückfälle und Einsichtsmomente.

  • Soziales: Isolation, Gruppenzugehörigkeit, spätere Anerkennung in der Gemeinschaft der AA.

  • Kultur: Der Unterschied zwischen Partykultur, Konsumkultur und der symbolischen Kultur der AA wird zum Bildungsfeld.

  • Subjekt: Nadine wird im Interview als sprechendes Subjekt sichtbar – nicht mehr Objekt von Zuschreibungen, sondern Erzählerin ihrer Wandlung.

  • Grenzen: Zwischen Imagination und Realität, Zugehörigkeit und Einsamkeit, Sucht und Abstinenz – das Interview kreist um Grenzerfahrungen.

6. Bildungsforschung als methodische Synthese

Im Hintergrund eures Gesprächs steht die methodische Frage: Wie kann aus der Verbindung von transformatorischer Bildung, Lacan und pädagogischer Anthropologie eine eigenständige anthropologische Bildungsforschung entstehen?

Die Folge zeigt, wie ein methodischer Zugang aussehen kann:

  • Narrative Interviews als Zugang zu biografischer Selbstdeutung,

  • Mehrdimensionale Theorieraster (RSI, Trias, anthropologische Kategorien) zur Strukturierung,

  • Interpretation rhetorischer Figuren als Zugang zu Transformationsmomenten,

  • und eine sensible Hermeneutik des Unaussprechlichen, die das Reale, das Nicht-Repräsentierbare mitdenkt.

 

Transformatorische Bildung – Folge 154 „Transformation und die Trias von Emotionen, Praxis und Theorie“

Paula und ich unterhalten uns über der Interview FR214, in dem es um den Prozess geht, wie man ein veganer Ernährungsweise annimmt. Dieses beziehen wir auf die Trias von Zirfas  von Emotionen, Praxis und Theorie oder Herz, Hand und Kopf (aus der Pädagogische Anthropologie). Zum Schluss gehen wir nochmal die anthropologischen Kategorien von Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt und Grenzen durch.

„Im Abendland finden sich anthropologische Überlegungen aber auch häufig um eine Trias zentriert, die über Jahrhunderte hinweg verschiedene Ausprägungen erfahren hat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier einige bedeutsame Anthropologien benannt: Bei Platon ist die Rede vom Menschen als Integral von Vernunft (Lernbegierigem), Mut (Löwenartigem) und Begehren (Schlangenartigem), Thomas von Aquin begreift ihn durch Denken, Wollen und Fühlen, während für Jan Amos Comenius Vernunft (eruditio), Selbstbeherrschung und Zivilisierung (mores) sowie Ehrfurcht und Glaube (religio) den Menschen ausmachen. Bei Immanuel Kant wird die Anthropologie durch das Erkennen, die Moral und die Hoffnung konturiert, Johann Heinrich Pestalozzi fasst den Menschen durch Herz, Hand und Kopf und bei Sigmund Freud finden wir die Dreiheit von Es (Trieb), Ich (Handlung) und Über-Ich (Normen). Kurz: Der Mensch erscheint im Okzident (in zentralen Anthropologien) als animal rationale, animal sociale und animal emotionale – als vernünftiges, praktisches und emotionales Lebewesen.“ (Zirfas. Pädagogische Anthropologie, 164 ff.)

Die anthropologischen Kategorien werden auch im letzten Podcast thematisiert. Transformatorische Bildung – Folge 153 „Anthropologische Kategorien und transformatorische Bildung in Bezug auf Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas“

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Paula über das Interview FR214 – Folge 154 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Paula das Interview FR214, in dem die interviewte Person über den Prozess berichtet, wie sie Schritt für Schritt zu einer veganen Lebensweise gelangt ist. Der Fokus liegt nicht nur auf den praktischen Veränderungen, sondern vor allem auf der inneren Transformation, die diesen Wandel begleitet. Diese Entwicklung wird auf der Grundlage der Trias Emotion – Praxis – Theorie (Zirfas) sowie den anthropologischen Kategorien (Wulf/Zirfas) analysiert.

1. Theoretischer Hintergrund: Triadische Anthropologien

Tim beginnt mit einer kurzen Genealogie anthropologischer Trias-Strukturen im abendländischen Denken – von Platon über Comenius, Kant und Pestalozzi bis hin zu Freud. Diese Triaden sind Ausdruck des Versuchs, den Menschen ganzheitlich zu fassen – als ein Wesen, das denkend, fühlend und handelnd in die Welt tritt.

In Anlehnung an Zirfas wird diese Struktur im Podcast zugespitzt zur Trias:

  • Herz (Emotion),

  • Hand (Praxis),

  • Kopf (Theorie).

Diese drei Dimensionen sollen helfen, den Prozess der Umstellung auf eine vegane Lebensweise nicht lediglich als Ernährungsentscheidung, sondern als transformatorische Bewegung des Subjekts zu rekonstruieren.


2. Die Trias in der Erzählung der Interviewten

a) Emotion (Herz):

Die Wendung zur veganen Ernährung beginnt nicht mit theoretischer Überzeugung, sondern mit einer emotionalen Irritation. Die Interviewte schildert ein Schlüsselerlebnis: das Sehen von Bildern aus der Massentierhaltung. Diese erzeugen Abscheu, Trauer, Mitleid – eine affektive Verstörung, die das bisherige Weltverhältnis infrage stellt.

b) Praxis (Hand):

Auf diese emotionale Erschütterung folgt eine konkrete Veränderung im Alltag: Der Einkauf wird umgestellt, Rezepte werden ausprobiert, soziale Herausforderungen gemeistert. Die Interviewpartnerin spricht von ersten Schwierigkeiten, aber auch von Stolz, Selbstwirksamkeit und einem neuen körperlichen Wohlbefinden.

c) Theorie (Kopf):

Erst in einem späteren Schritt setzt eine theoretische Auseinandersetzung mit Tierethik, Ernährung, Umweltfragen und Systemkritik ein. Die Interviewte beginnt, Sachbücher zu lesen, Vorträge zu hören und sich aktiv zu informieren. Diese kognitive Durchdringung verankert die vorher gelebte Praxis in einem weltanschaulichen Zusammenhang.

Diese Bewegung – vom Gefühl über die Handlung zur Reflexion – bildet den zentralen Bildungsprozess im Sinne der transformatorischen Theorie.


3. Die anthropologischen Kategorien in der veganen Transformation

Im zweiten Teil des Gesprächs greifen Tim und Paula die sieben anthropologischen Kategorien auf, um die Breite und Tiefe des Transformationsprozesses der Interviewten herauszuarbeiten:

  • Körper: Der Körper wird neu erfahren – leichter, gesünder, zugleich auch verletzlicher gegenüber sozialen Angriffen. Körperlichkeit ist Medium der Veränderung.

  • Soziales: Konflikte mit dem Umfeld, Ausgrenzung, Rechtfertigungsdruck, aber auch neue Formen der Zugehörigkeit (z. B. vegane Gruppen, digitale Communities).

  • Zeit: Rückblick auf das „frühere Ich“, Übergangszeit mit innerem Ringen, Vorausschau auf eine nachhaltige Zukunft. Bildung zeigt sich als zeitlich strukturierte Bewegung.

  • Raum: Der Supermarkt wird neu gelesen, die Küche neu organisiert. Räume werden als kulturelle Felder neu belegt.

  • Kultur: Die Normen der Esskultur, das gemeinsame Essen, familiäre Rituale – all das wird irritiert und teilweise neu erfunden.

  • Subjekt: Die Interviewte beschreibt sich zunehmend als „verantwortlich“, „wach“, „handelnd“. Eine neue Subjektivität emergiert aus dem Vollzug ethischer Praxis.

  • Grenzen: Sowohl innere als auch äußere Grenzverschiebungen sind zentral – etwa die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Genießen und Leiden, zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit.


4. Bildung als kulturell situiertes Geschehen

Paula und Tim betonen, dass dieser Bildungsprozess nicht linear verläuft. Es handelt sich vielmehr um eine zirkuläre Bewegung: Emotionen rufen Praxis hervor, die wiederum Theorie erfordert, welche rückwirkt auf neue Emotionen. Diese Verschränkung ist ästhetisch, kulturell und leiblich fundiert – und kann als Beispiel einer ästhetisch-anthropologischen Bildungsbewegung gelesen werden.

Abschließend wird nochmals auf die Bedeutung der Triaden hingewiesen: Sie helfen, die Komplexität menschlicher Bildungsprozesse in ihrer Ganzheit sichtbar zu machen, ohne auf Reduktionismen zu verfallen.

Transformatorische Bildung – Folge 153 „Anthropologische Kategorien und transformatorische Bildung in Bezug auf Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas“

Luca und ich unterhalten uns über den Transformationsprozess bei dem Verlassen der Zeugen Jehovos. Dabei beziehen wir das narrative Interview auf die anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt und Grenzen aus dem Handbuch Pädagogische Anthropologie von Wulf und Zirfas (Hrsg.)

Relevant ist dabei folgende Passage aus dem Handbuch (S. 24)

Dann erfolgt ein systematischer Überblick über die anthropologischen Grunddimensionen: Der Mensch ist, und diese Dimension stand historisch lange im Schatten des Geistes, ein körperliches Wesen. Der Körper ist Ausgangspunkt, Zielpunkt, Gegenstand und Mittel pädagogischer Einwirkungen und hinsichtlich seiner Sinnlichkeiten und Praktiken in den Blick zu nehmen (Kapitel 2: Körper). Der Mensch ist wei- terhin, und das wurde bislang auch betont, ein soziales Wesen. Die Selbstbeziehung und die Weltbeziehung werden wesentlich über soziale Beziehungen vermittelt und entwickelt, was u. a. mit dem Umstand zusammenhängt, dass die sozialen Erfahrungen ontogenetisch schon vor der Geburt von so zentraler Bedeutung für den Menschen sind (Kapitel 3: Soziales). Der Mensch ist sodann ein zeitliches Wesen, das eine phylogenetische und eine ontogenetische Geschichte hat; zudem muss es seine Zeit und die seiner Mit- menschen in irgendeiner Form „zeitigen“. Auch die Thematik der genetischen, sozialen, individuellen etc. Zeiten und der Umgang mit ihnen ist ein konstitutives Thema der Pädagogischen Anthropologie (Kapitel 4: Zeit). Das gilt auch für den Raum: So wie sich der Mensch von der Zeit her verstehen lässt, so auch vom Raum. Er schafft sich – mehr oder weniger – pädagogische Räume und er versteht sich selbst in räumlichen Kontexten. Dabei lassen sich unterschiedliche Räumlichkeiten thematisieren, z. B. architektonische, psychische oder soziale (Kapitel 5: Raum). Der Mensch ist ein Kulturwesen, wobei hier unter Kultur die Gesamtheit von Lebensformen und mentalen Grundlagen einer Gruppe verstanden wird. Für die anthropologische Kulturalität spielen vor allem performative, mimetische und symbolische Dimensionen eine wichtige Rolle. Die Kultur dient dem Menschen zur Gestaltung des Überlebens wie des guten Lebens, als auch dem Verständnis seiner selbst und der Welt (Kapitel 6: Kultur). Sodann lässt sich der Mensch auch als subjektives Lebewesen verstehen, als Individuum mit einer einzigar- tigen Biographie. Erfahrungen, Reflexionen und Wertmaßstäbe haben einerseits einen radikal individuellen Kern und verweisen doch andererseits auf die sie ermöglichen- den allgemeinen Strukturen der Gesellschaft, der Normativität oder der Macht (Kapitel 7: Subjekt). Und schließlich ist der Mensch ein Wesen, das sich durch Grenzziehungen auszeichnet, es zieht Grenzen im Humanen (etwa zwischen gesund und krank oder zwischen weiblich und männlich) und es zieht Grenzen des Humanen (indem es Differenzen zu Gott, dem Tier oder der Maschine markiert), die auch ihre pädagogischen Effekte haben (Kapitel 8: Grenzen).

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Luca über das Interview FR214 (Florian) – Folge 153 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Luca das narrative Interview mit Florian*, der aus der religiösen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgetreten ist. Die Erzählung seines Ausstiegs und der anschließenden Umorientierung wird als exemplarischer Fall eines transformatorischen Bildungsprozesses interpretiert, wobei das methodische Instrumentarium der pädagogischen Anthropologie von Wulf und Zirfas zentral wird: Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt, Grenzen) dienen als Raster zur systematischen Deutung der tiefgreifenden biografischen Umbrüche.

Zugleich fließen Theorien von Foucault, Butler und Althusser zur Anrufung, Disziplinierung und Subjektivierung mit ein, wodurch der Bildungsprozess nicht nur als individuelles Erleben, sondern als machtförmig strukturiertes Werden sichtbar wird.


1. Absolute Realität und soziale Einbettung

Florian beschreibt die Welt der Zeugen Jehovas als seine „absolute Realität“ – ein Ausdruck für die Totalität der religiösen Ordnung, die alle Lebensbereiche durchdringt: Erziehung, Bildung, Sozialleben, Zeitstruktur und moralisches Selbstverständnis.

  • Soziales: Freundschaften waren ausschließlich innerhalb der Gemeinschaft erlaubt. Kontakte zur „Welt draußen“ galten als gefährlich. Kindergarten, Sportvereine, weiterführende Bildung wurden unterbunden. Das soziale Feld ist streng kontrolliert – die Welt ist binär in „drinnen“ und „draußen“ geteilt.

  • Körper: Sexualität war tabuisiert, körperliche Intimität streng reglementiert. Bei Abweichungen drohten Sanktionen bis hin zum Ausschluss. Der Körper wird als Ort der Normierung und Disziplinierung sichtbar.

  • Zeit: Der Alltag war stark durch Gebetszeiten, Versammlungen, Predigtdienst strukturiert. Auch schon Kinder waren Teil der „Verkündigung“, mussten Stunden dokumentieren – ein Beispiel frühkindlicher Performativität.

  • Raum: Die Gemeinschaft bildet einen exklusiven Handlungsraum – auch psychisch und symbolisch. Der Kontakt zur „Welt“ außerhalb wird minimiert. Der imaginäre Raum des Selbst war durch biblische Narrative bestimmt.

  • Kultur: Die Bibel als kulturelles Zentrum. Kultur wird ausschließlich religiös vermittelt. Andere kulturelle Angebote (z. B. Feste, säkulare Literatur) sind ausgeschlossen.

  • Subjekt: Florian beschreibt ein tiefes Gefühl des Fremdseins mit sich selbst. Subjektivität ist nicht selbstgesetzt, sondern wird durch biblische Normen „von außen“ definiert. Eigenes Begehren wird als falsch empfunden.

  • Grenzen: Die Abgrenzung zwischen „gut“ (in der Gemeinschaft) und „böse“ (außerhalb) strukturiert alle Wahrnehmungen. Auch Grenzen von Geschlecht, Intimität, Moral und Subjektivität sind durch die religiöse Ordnung vorgezeichnet.


2. Anrufung und Disziplinierung (Butler/Foucault/Althusser)

Tim und Luca untersuchen, wie sich Anrufungen im Sinne von Judith Butler im Interview rekonstruieren lassen. Zwei Formen werden analysiert:

  • Interne Anrufung: Florian erlebt sich als Adressat einer moralischen Norm – als jemand, der „ein guter Zeuge“ zu sein habe. Anerkennung gibt es nur bei Regelkonformität.

  • Externe Anrufung: In der Schule wird Florian zum Außenseiter – durch Kleidung, Verhalten, Feste, die er nicht mitfeiert. Diese Anrufungen (z. B. Mobbing) erzeugen eine doppelte Exklusion.

Diese Anrufungen strukturieren nicht nur das Verhalten, sondern formen das Subjekt: Florian übernimmt die Sichtweise der Anderen auf sich selbst. Seine Subjektposition entsteht durch Anerkennungsdefizite – ein Prozess, der sich später im Ausstieg radikal umkehrt.


3. Transformation und Bildungsprozesse

Der Transformationsprozess beginnt während der Ausbildung, als Florian erstmals positive Rückmeldungen außerhalb der Glaubensgemeinschaft erhält. Entscheidende Wendepunkte sind zwei gescheiterte Ehen, die zur Infragestellung der religiösen Ordnung führen.

  • Emotion: Erste Zweifel, Erfahrungen von Ohnmacht, Trauer, aber auch Erleichterung beim Austritt.

  • Praxis: Kontakt mit neuen sozialen Gruppen, Aufbau eines neuen Lebens mit Partnerin und Kindern, neue Alltagsroutinen.

  • Theorie: Reflexion über Religion, Moral und Erziehung. Distanzierung von religiösen Institutionen, Entwicklung eines eigenen Werteverständnisses.

In dieser triadischen Bewegung vollzieht sich eine Neuordnung des Selbst – nicht abrupt, sondern als allmähliche Loslösung und Reorganisation.


4. Anthropologische Kategorien als Analyseinstrument

Tim und Luca betonen, wie die anthropologischen Kategorien dabei helfen, den umfassenden Charakter der Transformation zu erfassen. Besonders prägnant wird dies im Bereich:

  • Subjekt: Florian beschreibt, dass er sich heute nicht mehr durch äußere Normen definieren lässt. Zwar ist er nicht „überzeugt“ von Festen wie Weihnachten, aber er feiert sie für seine Kinder – ein performativer Akt neuer Subjektivität.

  • Kultur: Während er sich von Religion distanziert, übernimmt er Elemente der Mehrheitskultur (z. B. Feiertage), jedoch nicht affirmativ, sondern als leiblich-symbolische Geste für seine Familie.

  • Zeit/Grenzen: Der Bruch mit der Vergangenheit ist auch ein generationaler Bruch: Die eigene Familie ist verloren; neue Bezüge müssen erst hergestellt werden – über eine veränderte Zeitwahrnehmung und neue Grenzverhältnisse.


5. Methodische Überlegungen zur anthropologischen Bildungsforschung

Zum Abschluss diskutieren Tim und Luca, wie aus dieser Form der Analyse eine anthropologische Bildungsforschung entstehen kann. Drei Aspekte werden hervorgehoben:

  1. Narrative Interviews ermöglichen den Zugang zu subjektiven Bildungsprozessen, die in der Sprache geronnen sind.

  2. Die Kombination von transformatorischer Bildungstheorie, Subjektivierungstheorie (Butler/Foucault) und anthropologischen Kategorien eröffnet ein mehrdimensionales Analysefeld.

  3. Der Ansatz fördert eine sensibilisierte Wahrnehmung für Biografien, in denen sich kulturelle Ordnungen, Machtbeziehungen und Subjektentwürfe verdichten.

 

Transformatorische Bildung – Folge 152 „Identifikation und Symbolisierung als Anlass für Transformationen bei den Anonymen Alkoholikern (AA)“

Mailine und ich unterhalten uns über das Interview von Luca* (FR383). Wie hat er seinen Weg aus der Sucht gefunden. Dabei beziehen wir uns auf die drei Register: Symbolisch, imaginär und real bei Lacan.

„Eines morgens bin ich aufgewacht, war so ungefähr zwei Wochen später, nachdem ich diese Leberwerte bekommen, habe, dann habe ich zu meinem Hörer gegriffen, und dann habe ich die anonym Alkoholiker angerufen und hab gesagt, hey, ähm ich glaube, ich habe ein Alkoholproblem, dann habe ich das geschildert, und dann hat die Person mir am Telefon gesagt, so hört sich ganz danach an, als hättest du eins, und dann muss ich mir ja weinen, weil das einfach, dann war es besiegelt, also für mich. Und dann habe ich auch das erste Mal gesagt, ja, ich, ich bin Alkoholiker, und hat die Person gesagt, gut, dann kommt es heute Abend ins Meeting, und ähm, ja (.), und das war die beste Entscheidung, wahrscheinlich eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Wenn ich die Beste, auf jeden Fall die Beste in den letzten 15 Jahren, kann man sagen, weil äh ich bin da hingegangen, und ich habe gedacht, ich treffe jetzt den fünfundfünfzig jährigen Lkw Fahrer, der gerade seine Frau verloren hat, und alles so wie in diesen Filmen. Aber das war nicht so, waren zum größten Teil Leute in meinem Alter, manche bisschen älter, manche ein bisschen jünger, und die waren alle völlig normal. Aber die haben halt alle den Alkoholproblemen gehabt, und ich konnte mich damit wahnsinnig vielen identifizieren, und hab halt auch gemerkt, Alkolismus hat so, und in allen sozialen Schichten und in allen berufen und egal welchen Alters, ist es überall vertreten, und dann könnte ich das annehmen, und dann habe ich angefangen, daran zu arbeiten. (.)“ (FR383, Z. 437 – 453)

Zum Schluss diskutieren wir weitere Herangehensweisen:

So stellt sich die Frage, wie die Bedeutung der Praxis aus der Trias von Emotionen, Praxis und Theorie von Jörg Zirfas ist.

Zudem diskutieren wir kurz die anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt und Grenzen aus der Handbuch Pädagogische Anthropologie von Wulf/Zirfas.