Transformatorische Bildung – Folge 168 „Die positive Katastrophe der Geburt“

In dieser Podcastfolge mit Klara und mir widmen wir uns einem außergewöhnlichen Fall biografischer Bildung (FR470)– der unbemerkten Schwangerschaft einer Frau, die erst wenige Minuten vor der Geburt erfährt, dass sie Mutter wird. Das Interview, das dieser Folge zugrunde liegt, ist so eindrücklich wie philosophisch herausfordernd: Es erzählt von Kontrollverlust, Überforderung und Angst – aber auch von einer zutiefst menschlichen Neuorientierung, in der aus dem Schock ein neues Verhältnis zur Welt entsteht. Die Geburt wird hier zur „positiven Katastrophe“: ein Zusammenbruch alter Gewissheiten, der zugleich den Beginn eines anderen Selbst markiert.


Anna*, 37 Jahre alt, erfährt erst wenige Minuten vor der Geburt ihres Sohnes Anton, dass sie schwanger ist – ein Ereignis, das sie als „positive Katastrophe“ beschreibt. Aus der anfänglichen Überforderung, Angst und Orientierungslosigkeit entsteht schrittweise ein neuer Lebensentwurf, in dem Fürsorge, Verantwortung und Intuition zentrale Rollen spielen. Sie erlebt, wie sich familiäre und freundschaftliche Beziehungen teils auflösen, teils vertiefen, und wie sie in solidarischen Strukturen – etwa durch Kolleg:innen – neue Formen von Gemeinschaft erfährt. Im Umgang mit Ärzten und Behörden entwickelt sie Selbstbewusstsein und Kritikfähigkeit, lernt, Grenzen zu setzen und Hilfe anzunehmen. Am Ende steht eine gereifte Haltung, in der sie Dankbarkeit als Form von Freiheit erkennt: das Wissen, dass nicht Kontrolle, sondern Beziehung den Kern ihres neuen Lebens bildet.

„Der Begriff der Katastrophe (griechisch für Wendung, Umsturz) gehört in den
Bereich der Dramaturgie und insbesondere der Tragödie, in der sie den entscheidenden Wendepunkt bezeichnet, der in der Regel als Abschluss einer Handlung eine Lösung herbeiführt und das Schicksal des Helden – zum Guten (Auflösung einer komödiantischen Verwicklung) und zum Schlimmen (etwa im tragischen Untergang) – besiegelt. Dazu schreibt Michael Sonntag (2003, S. 22): „Das Präfix kata, ‚herab‘ oder ‚über etwas hin, um etwas herum‘, hat auch die Bedeutung von ‚gänzlich, umfassend‘, wie in ‚katholisch‘. Stre-phein bezeichnet ein aktives, mehr oder weniger plötzliches ‚ Wenden“‘. Die Katastrophe ergibt sich in einer Art innerer Notwendigkeit aus äußeren Ereignissen, göttlichen oder weltlichen Mächten und den charakterlichen Eigenschaften der handelnden Personen. Seit dem 18. Jahrhundert wird der Begriff der Katastrophe immer stärker auf nicht-theatrale Zusammenhänge bezogen, auf sogenannte ‚Naturkatastrophen‘ oder auf menschengemachte Katastrophen. Im Deutschen wird der Begriff erst spät heimisch, im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist er noch nicht verzeichnet.“ (Schmidt et. al. 2026)

Im Zentrum steht die Frage, wie sich eine solche Erfahrung aus Sicht der anthropologischen Bildungsforschung verstehen lässt. Wir gehen dabei vier Grundaspekten nach: der Transformation, der Trias aus Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas (2021), den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas (2014) sowie der Performativität des Sprechens. Bildung erscheint in diesem Zusammenhang nicht als Lernprozess, sondern als existenzielle Antwort auf eine Erfahrung, die sich rationalem Begreifen entzieht. Mit Waldenfels gedacht: Das Fremde trifft den Menschen als Pathos – und Bildung geschieht, wo darauf eine Response erfolgt, ein handelndes und sprachliches Sich-Einlassen auf das Unverfügbare.

Besonders intensiv besprechen wir die anthropologischen Dimensionen des Interviews: den Körper als Ort der Fremdheit und Intuition, den Raum als Schutz- und Übergangszone, die Zeit als Dehnung zwischen Schock und Reflexion, die Sozialität als Spannungsfeld zwischen Verlust und Solidarität. In der Veränderung dieser Dimensionen zeigt sich Bildung als leibliches, relationales und sprachliches Geschehen. Anna, die Erzählerin, wird im Verlauf ihrer Geschichte zur Gestalterin einer neuen Lebensordnung, in der Verantwortung und Autonomie, Fürsorge und Selbstbehauptung in ein neues Gleichgewicht treten.

Im Gespräch beziehen wir außerdem Hannah Arendts Konzept der Natalität auf das Interview. Arendt versteht Natalität als die Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen – als Ausdruck der menschlichen Freiheit. Annas Geschichte lässt sich genau so lesen: als radikaler Neuanfang, der nicht nur die Geburt eines Kindes, sondern die Geburt eines neuen Selbst markiert. In der Unvorhersehbarkeit dieses Ereignisses wird die conditio humana spürbar – die Möglichkeit, sich selbst inmitten der Kontingenz neu zu entwerfen.

Als Bildungsfiguration hebt die Arbeit schließlich die Spannung zwischen Gemeinschaft und Autonomie hervor. Bildung zeigt sich nicht als Rückzug ins Private, sondern als Bewegung zwischen relationaler Geborgenheit und individueller Selbstwerdung. Die Solidarität der Kolleg:innen, die Unterstützung der Eltern, aber auch die bewusste Abgrenzung gegenüber destruktiven Beziehungen – all das sind Ausdruck dieser figuralen Dialektik.

Das Fazit des Interviews bringt diesen Gedanken in einer einfachen, zugleich tiefen Sprache zum Ausdruck:

„Und jetzt weiß ich, dass es gar nicht so schlimm ist, auch mal Hilfe anzunehmen, und dass das nicht immer gleich mit einem Zurückgeben verbunden ist, dass man immer noch einen draufsetzen muss, sondern dass das Dankesagen so viel mehr wert ist als alles andere.“

In diesem Satz kulminiert, was anthropologische Bildung meint: die Öffnung für den Anderen, die Anerkennung der eigenen Endlichkeit und die Fähigkeit, aus der Erfahrung der Abhängigkeit eine neue Form von Freiheit zu gewinnen.

„Die positive Katastrophe der Geburt“ erzählt so von einer existentiellen Transformation, die zugleich biografisch konkret und philosophisch universell ist – von der Möglichkeit, im Erschüttertwerden menschlich zu werden.

Literatur

Schmidt, Tim/Krebs, Moritz/Rader, Timur/Schamel, Liesa/Schulz, Birgit, Zirfas, Jörg: Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2026

Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2014): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer VS.

Zirfas, Jörg (2021): Pädagogische Anthropologie. UTB

Transformatorische Bildung – Folge 165 „Ich kenne viele Leute hier, ihr alle kennt Nina.“ Flucht aus Syrien

Emma, Lena und ich unterhalten uns über eine Fluchterzählung (FR451) aus Syrien und die Wiedergeburt im neuen Land.

Dabei beziehen wir uns auf die

  1. Transformationstheorie nach Kokemohr und Koller
  2. Das Konzept der Fremdheitserfahrung nach Waldenfels
  3. die Trias von Emotion, Praxis und Theorie
  4. die sieben anthropologischen Kategorien von Körper, Raum, Zeit, Soziale, Kultur, Subjekt und Grenzen
  5. Und die Frage der Performativität, also wie das Interview gestaltet ist.

Besonders interessant fand ich die Frage der Übergangsfiguren im Interview, die einen neuen Zugang zur Welt ermöglichen.

Wir gehen zudem auf das Konzept der Natalität nach Hannah Arendt ein.

„Auch an der Natalität sind alle Tätigkeiten gleicherweise orientiert, da sie immer auch die Aufgabe haben, für die Zukunft zu sorgen, bzw. dafür, daß das Leben und die Welt dem ständigen Zufluß vom Neuankönnlingen, die als Fremdlinge in sie hineingeboren werden, gewachsen auf ihn vorbereitet bleibt. (…) Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in der Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handlen.“ (Arendt 2023, S. 25)

Arndt, Hannah (2023): Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper 3. Aufl.

(Zusammenfassung der Folge von GPT.)

Einleitung: Stimmen der Flucht 

In der 165. Folge des Podcasts „Transformatorische Bildung“ sprechen Tim, Emma und Lena über ein narratives Interview mit einer Frau, die unter dem Pseudonym „Nina“ geführt wird. Das Interview dokumentiert ihre Flucht aus Syrien im Jahr 2015 gemeinsam mit ihrem Sohn und thematisiert die anschließende Neuorientierung in Deutschland. Der Fokus des Gesprächs liegt auf Bildungsprozessen im Sinne einer Wiedergeburt im neuen Land, verstanden als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses unter widrigsten Bedingungen. Dabei werden zentrale theoretische Bezugspunkte eingebracht: die Transformationstheorie nach Kokemohr und Koller, Waldenfels’ Konzept der Fremdheitserfahrung, die anthropologische Trias von Emotion, Praxis und Theorie sowie die sieben anthropologischen Kategorien. Ergänzt wird das Gespräch durch Arendts Begriff der Natalität, verstanden als Möglichkeit des Neuanfangs durch Handeln.


Transformation und Fremdheitserfahrung 

Die Fluchterzählung ist von Anfang an durchzogen von der Sorge um den Sohn, dessen Wohlergehen für Nina zentraler Beweggrund zur Flucht war. Damit wird bereits zu Beginn eine Figur der Natalität im Sinne Arendts sichtbar: die Sorge für die Zukunft der Nachkommenschaft, die als „Fremdlinge in die Welt hineingeboren“ werden. Auf theoretischer Ebene wird das Interview mit Kokemohrs Konzept der „subsumptionsresistenten Erfahrung“ verknüpft, also Erfahrungen, die nicht ohne Weiteres in bestehende Deutungsmuster eingeordnet werden können und daher eine Transformation des Selbstverhältnisses auslösen.

Emma betont die Bedeutung der Fremdheitserfahrung im Sinne Waldenfels’: das passive Erleiden eines Widerfahrnisses, das nicht vollständig durch aktive Handlung kontrolliert werden kann. Diese Erfahrung des Ausgesetztseins und der existenziellen Erschütterung wird in der Flucht – insbesondere während der Bootsfahrt – paradigmatisch sichtbar. Die Erzählung der Interviewten ist geprägt von Wiederholungen wie „Ich habe immer Angst“, die als rhetorische Figur eine drängende, nicht versiegende Angst markieren. Lena beschreibt diese Sequenz als einen Punkt, an dem Sprache selbst an ihre Grenzen stößt, was sich in Parataxen, Satzabbrüchen und elliptischen Strukturen zeigt.


Emotion – Praxis – Theorie 

Die triadische Struktur der anthropologischen Bildungsforschung nach Zirfas wird exemplarisch entfaltet: Emotionen – insbesondere Angst – prägen die gesamte Erzählung. Sie transformieren sich jedoch im Verlauf zu Formen des Selbstvertrauens und der Selbstbehauptung. Nina entwickelt zunehmend ein neues Selbstbild: vom „Ich kann nicht“ zum „Ich bin Nina – alle kennen mich“. Diese Entwicklung wird als ein Moment positiver Selbstwirksamkeit gedeutet. Damit wird Bildung nicht nur als Leiden an der Welt, sondern auch als aktive Neuorientierung im Handeln sichtbar – eine Bewegung von Passivität zu Autonomie.


Anthropologische Kategorien: Sprache, Körper und Grenzen etc.

Im weiteren Verlauf wird das Interview entlang der sieben anthropologischen Kategorien gelesen. Besonders zentral ist der Körper, der während der Flucht extremen Bedingungen ausgesetzt ist („wir schlafen kaum, wir laufen immer“), sowie die Kategorie der Sprache: Nina beschreibt mehrfach, sie habe „keine Sprache“. Dieser Verlust verweist auf den anthropologischen Grundsatz, dass Bildung wesentlich in der Sprache geschieht – wie Humboldt es nannte: als „Bildungsorgan des Gedankens“. Der sprachliche Neuanfang in Deutschland wird so zu einem symbolischen Akt der Wiedergeburt, der zugleich mit einem Gefühl der Entfremdung verbunden ist. Auch das Gedächtnis, das Erzählen als erinnernde Praxis, wird thematisiert: Das Interview selbst ist ein Versuch, das Unaussprechliche sagbar zu machen – eine Grenzarbeit an der Grenze zwischen Erfahrbarkeit und Mitteilbarkeit.


Geburt, Wiedergeburt und Natalität 

Die Vorstellung von Geburt als Möglichkeit des Neubeginns wird im Anschluss durch Arendts Konzept der Natalität vertieft. Im Kontext des Interviews erhält dieser Begriff eine doppelte Bedeutung: zum einen biografisch – Nina ist Mutter und ihre Handlung ist auf das Leben ihres Sohnes hin orientiert – zum anderen existenziell – sie selbst erfährt eine Wiedergeburt durch das Ankommen in Deutschland. Diese doppelte Natalität verweist auf das Vermögen, „einen neuen Anfang zu machen“, wie Arendt es formuliert. Besonders eindrucksvoll wird dies in der Entscheidungsszene, als Nina – nach einem Albtraum – sagt: „Ich kann nicht mehr, ich muss weg.“ Diese Sätze erscheinen formal als performative Hauptsätze und markieren einen Wendepunkt, in dem das Unsagbare in Handlung übergeht.


Ambivalenzen von Heimat und Fremde 

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Ambivalenz des Heimatbegriffs. Obwohl Nina vor dem Krieg floh und der Verlust existenziell war, spricht sie von Heimweh. In der Formulierung „Deutschland ist wie mein Heimatland, aber ich habe Heimweh“ wird ein Zustand des Dazwischen deutlich: eine prekäre Zugehörigkeit, die sich nicht eindeutig verorten lässt. Lena beschreibt dies als Identitätsdifferenz zwischen dem Gefühl von Halb-Syrisch und Halb-Deutsch. Diese Ambiguität ist nicht auflösbar, sondern konstitutiv für das neue Selbstverhältnis.


Fazit: Performativität und Sprachgrenzen

Am Ende des Gesprächs wird die Performativität des Interviews reflektiert. Die Erzählung selbst ist bereits ein Bildungsakt – sie macht sichtbar, was sprachlich schwer zu fassen ist. Die Parataxen, Wiederholungen und affektiven Aufladungen markieren Grenzorte der Sprache, an denen die Gewalt des Erlebten durchscheint. Die Interviewten thematisieren die Unmöglichkeit, diese Erfahrungen vollständig zu teilen, aber auch den Versuch, sie dennoch zu vermitteln – ein paradoxales Sprechen des Unsagbaren.


Zusammenfassung:

Die Podcastfolge zeichnet ein dichtes Bild einer biografischen Transformation, die unter existenziellen Bedingungen stattfindet. Die Fluchterfahrung wird dabei nicht nur als politische oder soziale Herausforderung verstanden, sondern als Bildungsprozess im tiefen Sinne: als Umgestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses, in dem Angst, Sprachverlust, Körpererfahrung, Erinnerung, Heimatlosigkeit und Neuanfang miteinander verschränkt sind. Die Kombination aus theoretischer Tiefenschärfe und narrativer Empathie verleiht der Folge eine besondere Dichte – sie macht deutlich, wie Bildung auch an den Rändern des Sagbaren beginnt.