In dieser Podcastfolge mit Klara und mir widmen wir uns einem außergewöhnlichen Fall biografischer Bildung (FR470)– der unbemerkten Schwangerschaft einer Frau, die erst wenige Minuten vor der Geburt erfährt, dass sie Mutter wird. Das Interview, das dieser Folge zugrunde liegt, ist so eindrücklich wie philosophisch herausfordernd: Es erzählt von Kontrollverlust, Überforderung und Angst – aber auch von einer zutiefst menschlichen Neuorientierung, in der aus dem Schock ein neues Verhältnis zur Welt entsteht. Die Geburt wird hier zur „positiven Katastrophe“: ein Zusammenbruch alter Gewissheiten, der zugleich den Beginn eines anderen Selbst markiert.
Anna*, 37 Jahre alt, erfährt erst wenige Minuten vor der Geburt ihres Sohnes Anton, dass sie schwanger ist – ein Ereignis, das sie als „positive Katastrophe“ beschreibt. Aus der anfänglichen Überforderung, Angst und Orientierungslosigkeit entsteht schrittweise ein neuer Lebensentwurf, in dem Fürsorge, Verantwortung und Intuition zentrale Rollen spielen. Sie erlebt, wie sich familiäre und freundschaftliche Beziehungen teils auflösen, teils vertiefen, und wie sie in solidarischen Strukturen – etwa durch Kolleg:innen – neue Formen von Gemeinschaft erfährt. Im Umgang mit Ärzten und Behörden entwickelt sie Selbstbewusstsein und Kritikfähigkeit, lernt, Grenzen zu setzen und Hilfe anzunehmen. Am Ende steht eine gereifte Haltung, in der sie Dankbarkeit als Form von Freiheit erkennt: das Wissen, dass nicht Kontrolle, sondern Beziehung den Kern ihres neuen Lebens bildet.
„Der Begriff der Katastrophe (griechisch für Wendung, Umsturz) gehört in den
Bereich der Dramaturgie und insbesondere der Tragödie, in der sie den entscheidenden Wendepunkt bezeichnet, der in der Regel als Abschluss einer Handlung eine Lösung herbeiführt und das Schicksal des Helden – zum Guten (Auflösung einer komödiantischen Verwicklung) und zum Schlimmen (etwa im tragischen Untergang) – besiegelt. Dazu schreibt Michael Sonntag (2003, S. 22): „Das Präfix kata, ‚herab‘ oder ‚über etwas hin, um etwas herum‘, hat auch die Bedeutung von ‚gänzlich, umfassend‘, wie in ‚katholisch‘. Stre-phein bezeichnet ein aktives, mehr oder weniger plötzliches ‚ Wenden“‘. Die Katastrophe ergibt sich in einer Art innerer Notwendigkeit aus äußeren Ereignissen, göttlichen oder weltlichen Mächten und den charakterlichen Eigenschaften der handelnden Personen. Seit dem 18. Jahrhundert wird der Begriff der Katastrophe immer stärker auf nicht-theatrale Zusammenhänge bezogen, auf sogenannte ‚Naturkatastrophen‘ oder auf menschengemachte Katastrophen. Im Deutschen wird der Begriff erst spät heimisch, im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist er noch nicht verzeichnet.“ (Schmidt et. al. 2026)
Im Zentrum steht die Frage, wie sich eine solche Erfahrung aus Sicht der anthropologischen Bildungsforschung verstehen lässt. Wir gehen dabei vier Grundaspekten nach: der Transformation, der Trias aus Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas (2021), den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas (2014) sowie der Performativität des Sprechens. Bildung erscheint in diesem Zusammenhang nicht als Lernprozess, sondern als existenzielle Antwort auf eine Erfahrung, die sich rationalem Begreifen entzieht. Mit Waldenfels gedacht: Das Fremde trifft den Menschen als Pathos – und Bildung geschieht, wo darauf eine Response erfolgt, ein handelndes und sprachliches Sich-Einlassen auf das Unverfügbare.
Besonders intensiv besprechen wir die anthropologischen Dimensionen des Interviews: den Körper als Ort der Fremdheit und Intuition, den Raum als Schutz- und Übergangszone, die Zeit als Dehnung zwischen Schock und Reflexion, die Sozialität als Spannungsfeld zwischen Verlust und Solidarität. In der Veränderung dieser Dimensionen zeigt sich Bildung als leibliches, relationales und sprachliches Geschehen. Anna, die Erzählerin, wird im Verlauf ihrer Geschichte zur Gestalterin einer neuen Lebensordnung, in der Verantwortung und Autonomie, Fürsorge und Selbstbehauptung in ein neues Gleichgewicht treten.
Im Gespräch beziehen wir außerdem Hannah Arendts Konzept der Natalität auf das Interview. Arendt versteht Natalität als die Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen – als Ausdruck der menschlichen Freiheit. Annas Geschichte lässt sich genau so lesen: als radikaler Neuanfang, der nicht nur die Geburt eines Kindes, sondern die Geburt eines neuen Selbst markiert. In der Unvorhersehbarkeit dieses Ereignisses wird die conditio humana spürbar – die Möglichkeit, sich selbst inmitten der Kontingenz neu zu entwerfen.
Als Bildungsfiguration hebt die Arbeit schließlich die Spannung zwischen Gemeinschaft und Autonomie hervor. Bildung zeigt sich nicht als Rückzug ins Private, sondern als Bewegung zwischen relationaler Geborgenheit und individueller Selbstwerdung. Die Solidarität der Kolleg:innen, die Unterstützung der Eltern, aber auch die bewusste Abgrenzung gegenüber destruktiven Beziehungen – all das sind Ausdruck dieser figuralen Dialektik.
Das Fazit des Interviews bringt diesen Gedanken in einer einfachen, zugleich tiefen Sprache zum Ausdruck:
„Und jetzt weiß ich, dass es gar nicht so schlimm ist, auch mal Hilfe anzunehmen, und dass das nicht immer gleich mit einem Zurückgeben verbunden ist, dass man immer noch einen draufsetzen muss, sondern dass das Dankesagen so viel mehr wert ist als alles andere.“
In diesem Satz kulminiert, was anthropologische Bildung meint: die Öffnung für den Anderen, die Anerkennung der eigenen Endlichkeit und die Fähigkeit, aus der Erfahrung der Abhängigkeit eine neue Form von Freiheit zu gewinnen.
„Die positive Katastrophe der Geburt“ erzählt so von einer existentiellen Transformation, die zugleich biografisch konkret und philosophisch universell ist – von der Möglichkeit, im Erschüttertwerden menschlich zu werden.
Literatur
Schmidt, Tim/Krebs, Moritz/Rader, Timur/Schamel, Liesa/Schulz, Birgit, Zirfas, Jörg: Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2026
Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2014): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer VS.
Zirfas, Jörg (2021): Pädagogische Anthropologie. UTB