Transformatorische Bildung – Folge 160 „Und das hat mich total angesprochen und die waren auch alles Alkoholiker.“ Identifikation in AA

Anhand eines Interviews von Fred* über seine Alkoholsucht (FR362) diskutieren Lorenz und ich, inwiefern Identifikationen und Symbolisierungen im Sinne von Lacan zu einen Transformationsprozess auslösen können. Dabei beziehen wir uns auch auf die anthropologischen Kategorien.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Lorenz über das Interview FR362 („Fred“) GPT

In dieser Episode des Podcasts Transformatorische Bildung analysieren Tim und Lorenz gemeinsam das narrative Interview FR362, in dem Fred* über seine langjährige Erfahrung mit Alkoholabhängigkeit berichtet. Das Gespräch thematisiert die strukturelle Dynamik von Suchtbiografien, deren symbolische Rahmung durch Sprache sowie die Rolle von Identifikationsprozessen und subjektiven Umbrüchen im Kontext von Transformation und Bildung. Dabei werden Konzepte der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans mit der anthropologischen Bildungsforschung verknüpft.

Einführung und theoretische Rahmung

Zu Beginn skizzieren Tim und Lorenz die Relevanz des Interviews im Lichte der transformatorischen Bildungstheorie nach Koller und Kokemohr. Diese Theorie geht davon aus, dass Bildungsprozesse durch krisenhafte Fremdheitserfahrungen ausgelöst werden, die eine tiefgreifende Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses erforderlich machen. In Freds Fall ist die Alkoholabhängigkeit sowohl Symptom als auch Ausdruck einer existenziellen Krise. Die Analyse orientiert sich zudem an den drei Registern der Lacanschen Psychoanalyse – Imaginäres, Symbolisches und Reales – sowie an den anthropologischen Kategorien (Zirfas et al.).

Lebensweg und Krisenerfahrung

Fred wächst in der DDR auf, in einem von emotionaler Distanziertheit, Gewalt und Lügen geprägten Elternhaus. Schon früh zeigt sich eine Suchtstruktur: Fernsehen, Essen, später Cannabis und schließlich Alkohol. In der Grundschule erfährt Fred Mobbing, was in seiner Jugendzeit in die Identifikation mit einer „coolen Kiffergruppe“ mündet – eine erste imaginäre Selbstinszenierung, wie Tim herausarbeitet. Diese Identifikationslinie verstärkt sich, als Fred in Beziehungen scheitert, die Vaterschaft nicht bewältigen kann und zunehmend in selbstzerstörerische Alkoholexzesse verfällt.

Der entscheidende Bruch tritt ein, als Fred sich in einem „Loch“ – einer kleinen Wohnung in einer fremden Stadt – vollständig sozial isoliert. Die Erzählung dieses Tiefpunkts markiert eine Grenze, an der das bisherige Selbst- und Weltverhältnis kollabiert. Die Beschreibung des Körpers („der Alkohol macht mich kaputter als das Kiffen – im Kopf und im Leben“) ist Ausdruck eines somatisch und psychisch erfahrenen Zerfalls.

Lacan: Imaginäres, Symbolisches, Reales

Das Gespräch analysiert Freds Geschichte entlang der Lacanschen Trias:

  • Imaginär: Die Identifikation mit dem Bild des coolen Kiffers, später auch mit dem Bild des trinkenden Außenseiters. Der Blick der anderen, z. B. beim Mobbing, wirkt als Form negativer Anrufung (vgl. Butler), die internalisiert wird und zur Selbstdegradierung führt. In Kneipen findet Fred eine soziale Szene, in der seine Sucht normalisiert wird – das Bild des Trinkenden wird stabilisiert und reproduziert.

  • Symbolisch: Der Wendepunkt ist geprägt durch eine sprachlich vermittelte Erfahrung: In den Meetings der Anonymen Alkoholiker hört Fred zum ersten Mal eine neue symbolische Ordnung. Der Satz „Alkoholiker bleiben Alkoholiker – das kann man nicht kontrollieren“ wird für ihn zu einer zentralen Einsicht, die ihm eine neue Form der Selbstbeschreibung ermöglicht. Er übernimmt das symbolische System der Anonymen Alkoholiker – inklusive ihrer Sprache und Narrative – und findet dadurch eine neue, sinnstiftende Positionierung.

  • Reales: Das Reale manifestiert sich als dasjenige, was sich der Symbolisierung entzieht – das traumatische, körperlich erfahrene Leid, die unkontrollierbare Macht des Suchtverlangens. In Freds Erzählung zeigt sich das Reale etwa in den wiederholten Rückfällen, im Gefühl „krank zu sein“ und in der völligen Erschöpfung durch den inneren Kampf. Dieses Reale wird durch die symbolische Ordnung der AA teilweise integriert, aber nie völlig aufgelöst.

Anthropologische Kategorien

Im Verlauf des Gesprächs werden die sieben anthropologischen Kategorien von Zürfers in die Analyse einbezogen:

  • Körper: Der Alkohol zerstört den Körper und entzieht Fred zunehmend die Kontrolle über sich selbst. Diese Erfahrung bildet eine zentrale Voraussetzung für die Transformation.

  • Raum: Die Kneipe als öffentlicher Raum der kollektiven Sucht und das „Zimmerloch“ als Ort der Isolation stehen exemplarisch für das räumlich eingebettete Selbstverhältnis.

  • Zeit: Die Beschreibung einer „Pink Cloud“ – der euphorischen ersten Phase der Abstinenz – verweist auf eine veränderte Zeitwahrnehmung. Der Übergang von der chronischen Wiederholung (Rückfälle) hin zu einer neuen Zeitstruktur der Hoffnung ist Teil des Bildungsprozesses.

  • Soziales: Freds soziale Beziehungen oszillieren zwischen toxischer Zugehörigkeit (Trinkgemeinschaft) und neuer sozialer Integration (AA). Die Wandlung im sozialen Gefüge ist Teil seiner Bildungsbewegung.

  • Kultur: Die Kultur der Anonymen Alkoholiker – mit eigenen Regeln, Ritualen und Sprachnormen – bietet Fred eine neue kulturelle Matrix zur Deutung seiner Biografie.

  • Subjekt: Durch die narrative Struktur des Interviews konstituiert sich Fred als Subjekt, das sich erinnernd, deutend und reflektierend zu sich selbst verhält. Das Subjekt wird hier nicht als stabile Entität verstanden, sondern als Resultat eines gespaltenen, suchenden und sprechenden Prozesses – in Übereinstimmung mit der Lacanschen Subjekttheorie.

  • Grenzen: Die Analyse zeigt deutlich, wie Fred in seinem Leben an psychische, soziale und körperliche Grenzen stößt. Die Grenze markiert zugleich den Punkt, an dem Transformation möglich wird.

Schlussbemerkung

Das Gespräch zwischen Tim und Lorenz demonstriert eindrucksvoll, wie eine psychoanalytisch informierte Lesart narrativer Interviews zur Rekonstruktion tiefgreifender Bildungsprozesse beitragen kann. Die Verknüpfung von Lacans Topologie des Subjekts mit der Theorie transformatorischer Bildung und den anthropologischen Kategorien erlaubt eine vielschichtige Analyse der Erzählung Freds. Sie macht sichtbar, wie sich im symbolischen Aneignen, im emotionalen Durchleben und im praktischen Wandel ein neues Verhältnis zur Welt und zum Selbst ausbilden kann – getragen von Sprache, Begegnung und der Arbeit am eigenen Leben.

Transformatorische Bildung – Folge 008 “Projektion, Introjektion und Sublimierung bei Freud”

Eine weitere Folge zur Psychoanalyse mit Mareike und mir.
Freud, Sigmund: Über einige Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität G.W. XIII S. 192 – 207