Transformatorische Bildung

Was besagt transformatorische Bildung?

Bildung = Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses

Um uns dieser Frage zu nähern, sollten wir uns zunächst anschauen, wogegen sich der Begriff der Transformation in der Erziehungswissenschaft richtet. In der Tradition des deutschen Idealismus (vgl. Hegel und Humboldt) wird Bildung zumeist als ein Aufhebungsprozess verstanden, bei dem eine Erfahrung von einer höheren Stufe wahrgenommen und bewertet werden kann, also im Wortsinne aufgehoben wird, und dabei reflektiert wird. Ausgelöst durch diese Reflexion verändert man seine Einstellung und sein Verhalten, zum Beispiel gegenüber seinen Mitmenschen oder seiner Umwelt. In dieser Bewegung nach oben ist eine Bewertung enthalten, die sich – spätestens nach der Erfahrung der Nazizeit mit der industriellen Ermordung der Juden und dem zweiten Weltkrieg –  als problematisch erwiesen hat.

Das Wort Transformation betont gegenüber der Aufhebung, dass das Moment der Veränderung nicht vorschnell bewertet werden soll. Unhinterfragte Werturteile sollten zunächst vermieden werden; (auch wenn der Begriff der Transformation nicht ganz ohne Wertungen auskommt und sollte diese lediglich darin bestehen, dass Transformationen stattfinden sollten.)

Wir haben es also mit einer Veränderung eines Menschen im Bildungsprozess zu tun. Aber was verändert sich genau? Die Autoren Kokemohr, Marotzki und Koller schreiben, – jeder dabei auf seine Weise- , es sei das “Welt- und Selbstverhältnis”, welches sich verändert. Diese Formulierung ist erklärungsbedürftig. Zunächst ist unter dieser Phrase zu verstehen, wie sich ein Mensch in der Welt situiert – einen Bezug er zur Welt aufbaut. Bei Humboldt ist die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt für den Bildungsprozess entscheidend. Wenn die Autoren “Selbst” und nicht “Ich” schreiben steht zu vermuten, dass eine Verwechslung mit dem Ich der Psychoanalyse vermieden werden soll. Hierbei ist zumindest in der Lesart von Kokemohr zu betonen, dass es sich um ein Welt- UND Selbstverhältnis handelt, und somit das “und” zu betonen sei; so wie zwei Seiten einer Medaille auch nicht getrennt werden können.

Noch eine Sache ist bei der Formulierung auffällig: Das Wort “Welt” steht in der Satzphrase räumlich, und vielleicht auch logisch, vor dem “Ich”. Hiermit wird in Bezug auf Hegel und Humboldt betont, dass das Selbst nur in der Verarbeitung der Welt, bei Hegel lässt sich dieses als Entfremdung bezeichnen, am Ende dieses Prozesses zu sich selbst finden kann. Ein Selbst, nur umgeben von Vakuum, könnte ja nicht einmal “Ich” sagen, da es nichts gibt, wogegen sich das Ich vom Nicht-Ich absetzen sollte.

An dieser Stelle möchte ich noch auf einige Begriffe eingehen, die als Alternative für “Welt- und Selbstverhältnis” nahe liegen würden. So bestünde die Möglichkeit “Welt- und Selbstverhältnis” durch Identität zu ersetzen. Allerdings ist auch dieser Begriff stark durch eine wertende Tradition geprägt und im Kontext der post-strukturalistischen Theorie aus Frankreich einer starken Kritik ausgesetzt worden. Vor allem wenn man sich auf Fragen der “Inter-” oder besser “Transkulturalität” bezieht, wird der Begriff der Identität nicht mehr als Lösung, sondern als Problem, angesehen. Formulierungen wie “Hybride Identität” zeugen von dieser Problemstellung. Einen intelligenten Umgang hiermit hat der französische Philosoph Ricoeur gefunden, der mit dem Begriff der “narrativen Identität” die textuelle Verfasstheit der Identitätskonstruktion betont.

Gleiches gilt für den Begriff der Entwicklung, den man anstelle der Transformation verwenden könnte. Auch hier schleichen sich problematische Traditionsbestände in die Formulierung ein. Als nächste stellt sich die Frage, woran man Transformationen des “Welt- und Selbstverhältnisses” erkennt.

 

Im folgenden sollen zwei Vorschläge nachgegangen werden, die von Marotzki und Kokemohr stammen.

  1. Marotzki betont, dass es die Kategorien eines Menschen sind, welche sich im Bildungsprozess verändern. Unter Kategorien lässt sich zunächst das Strukturieren einer Vielheit unter einen Begriff oder Konzept verstehen. Erst durch diese Kategorisierung wird die mannigfaltige und unübersichtliche Welt verarbeitbar. Wie genau Kategorien oder Kontexturen zu fassen sind, kann aufgrund des begrenzten Umfangs nicht diskutiert werden. Hinweise darauf finden sie bei Marotzki in “Entwurf einer strukturellen Bildungstheorie.”
  2. Als zweiter Vorschlag soll der Begriff der Figuren herangezogen werden, den Kokemohr ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Rhetorische Figuren oder Mittel sind dabei der Gegenstand, der analysiert wird. Dabei bezieht er sich einerseits auf die antike Rhetoriklehre und andererseits  auf moderne Konzept die vor allem die Alltagsrhetorik hervorheben. Dieser Vorschlag von Kokemohr erscheint mir sehr produktiv und lässt sich zumeist gewinnbringend auf Interviews beziehen. Zudem lässt sich dadurch eine Beziehung zur Tradition des deutschen Idealismus herstellen, der die Sprache als zentrales Medium oder mit Humboldt “als Organ des Denkens” fasst.

Sucht man nach Transformationen von grundlegenden Figuren oder Kategorien des Welt- und Selbstverhältnisses, sollte man zunächst diejenigen Satzteile im narrativen Interview herausfiltern, in denen die interviewte Person ihre Situierung in der Welt ausdrückt. Häufig drückt sich dieses in sprachlichen Bildern aus, wie zum Beispiel in Metaphern oder auch nur in immer wiederkehrenden Wörtern. Verändern sich diese Figuren, liegt es nahe, hier von einem Bildungsprozess zu sprechen.

Ich hoffe, diese kleine Einführung konnte etwas Klarheit stiften. Zur weiterführenden Lektüre empfehle ich von Hans-Christoph Koller: “Bildung anders denken”.