Transformatorische Bildung – Folge 160 „Und das hat mich total angesprochen und die waren auch alles Alkoholiker.“ Identifikation in AA

Anhand eines Interviews von Fred* über seine Alkoholsucht (FR362) diskutieren Lorenz und ich, inwiefern Identifikationen und Symbolisierungen im Sinne von Lacan zu einen Transformationsprozess auslösen können. Dabei beziehen wir uns auch auf die anthropologischen Kategorien.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Lorenz über das Interview FR362 („Fred“) GPT

In dieser Episode des Podcasts Transformatorische Bildung analysieren Tim und Lorenz gemeinsam das narrative Interview FR362, in dem Fred* über seine langjährige Erfahrung mit Alkoholabhängigkeit berichtet. Das Gespräch thematisiert die strukturelle Dynamik von Suchtbiografien, deren symbolische Rahmung durch Sprache sowie die Rolle von Identifikationsprozessen und subjektiven Umbrüchen im Kontext von Transformation und Bildung. Dabei werden Konzepte der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans mit der anthropologischen Bildungsforschung verknüpft.

Einführung und theoretische Rahmung

Zu Beginn skizzieren Tim und Lorenz die Relevanz des Interviews im Lichte der transformatorischen Bildungstheorie nach Koller und Kokemohr. Diese Theorie geht davon aus, dass Bildungsprozesse durch krisenhafte Fremdheitserfahrungen ausgelöst werden, die eine tiefgreifende Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses erforderlich machen. In Freds Fall ist die Alkoholabhängigkeit sowohl Symptom als auch Ausdruck einer existenziellen Krise. Die Analyse orientiert sich zudem an den drei Registern der Lacanschen Psychoanalyse – Imaginäres, Symbolisches und Reales – sowie an den anthropologischen Kategorien (Zirfas et al.).

Lebensweg und Krisenerfahrung

Fred wächst in der DDR auf, in einem von emotionaler Distanziertheit, Gewalt und Lügen geprägten Elternhaus. Schon früh zeigt sich eine Suchtstruktur: Fernsehen, Essen, später Cannabis und schließlich Alkohol. In der Grundschule erfährt Fred Mobbing, was in seiner Jugendzeit in die Identifikation mit einer „coolen Kiffergruppe“ mündet – eine erste imaginäre Selbstinszenierung, wie Tim herausarbeitet. Diese Identifikationslinie verstärkt sich, als Fred in Beziehungen scheitert, die Vaterschaft nicht bewältigen kann und zunehmend in selbstzerstörerische Alkoholexzesse verfällt.

Der entscheidende Bruch tritt ein, als Fred sich in einem „Loch“ – einer kleinen Wohnung in einer fremden Stadt – vollständig sozial isoliert. Die Erzählung dieses Tiefpunkts markiert eine Grenze, an der das bisherige Selbst- und Weltverhältnis kollabiert. Die Beschreibung des Körpers („der Alkohol macht mich kaputter als das Kiffen – im Kopf und im Leben“) ist Ausdruck eines somatisch und psychisch erfahrenen Zerfalls.

Lacan: Imaginäres, Symbolisches, Reales

Das Gespräch analysiert Freds Geschichte entlang der Lacanschen Trias:

  • Imaginär: Die Identifikation mit dem Bild des coolen Kiffers, später auch mit dem Bild des trinkenden Außenseiters. Der Blick der anderen, z. B. beim Mobbing, wirkt als Form negativer Anrufung (vgl. Butler), die internalisiert wird und zur Selbstdegradierung führt. In Kneipen findet Fred eine soziale Szene, in der seine Sucht normalisiert wird – das Bild des Trinkenden wird stabilisiert und reproduziert.

  • Symbolisch: Der Wendepunkt ist geprägt durch eine sprachlich vermittelte Erfahrung: In den Meetings der Anonymen Alkoholiker hört Fred zum ersten Mal eine neue symbolische Ordnung. Der Satz „Alkoholiker bleiben Alkoholiker – das kann man nicht kontrollieren“ wird für ihn zu einer zentralen Einsicht, die ihm eine neue Form der Selbstbeschreibung ermöglicht. Er übernimmt das symbolische System der Anonymen Alkoholiker – inklusive ihrer Sprache und Narrative – und findet dadurch eine neue, sinnstiftende Positionierung.

  • Reales: Das Reale manifestiert sich als dasjenige, was sich der Symbolisierung entzieht – das traumatische, körperlich erfahrene Leid, die unkontrollierbare Macht des Suchtverlangens. In Freds Erzählung zeigt sich das Reale etwa in den wiederholten Rückfällen, im Gefühl „krank zu sein“ und in der völligen Erschöpfung durch den inneren Kampf. Dieses Reale wird durch die symbolische Ordnung der AA teilweise integriert, aber nie völlig aufgelöst.

Anthropologische Kategorien

Im Verlauf des Gesprächs werden die sieben anthropologischen Kategorien von Zürfers in die Analyse einbezogen:

  • Körper: Der Alkohol zerstört den Körper und entzieht Fred zunehmend die Kontrolle über sich selbst. Diese Erfahrung bildet eine zentrale Voraussetzung für die Transformation.

  • Raum: Die Kneipe als öffentlicher Raum der kollektiven Sucht und das „Zimmerloch“ als Ort der Isolation stehen exemplarisch für das räumlich eingebettete Selbstverhältnis.

  • Zeit: Die Beschreibung einer „Pink Cloud“ – der euphorischen ersten Phase der Abstinenz – verweist auf eine veränderte Zeitwahrnehmung. Der Übergang von der chronischen Wiederholung (Rückfälle) hin zu einer neuen Zeitstruktur der Hoffnung ist Teil des Bildungsprozesses.

  • Soziales: Freds soziale Beziehungen oszillieren zwischen toxischer Zugehörigkeit (Trinkgemeinschaft) und neuer sozialer Integration (AA). Die Wandlung im sozialen Gefüge ist Teil seiner Bildungsbewegung.

  • Kultur: Die Kultur der Anonymen Alkoholiker – mit eigenen Regeln, Ritualen und Sprachnormen – bietet Fred eine neue kulturelle Matrix zur Deutung seiner Biografie.

  • Subjekt: Durch die narrative Struktur des Interviews konstituiert sich Fred als Subjekt, das sich erinnernd, deutend und reflektierend zu sich selbst verhält. Das Subjekt wird hier nicht als stabile Entität verstanden, sondern als Resultat eines gespaltenen, suchenden und sprechenden Prozesses – in Übereinstimmung mit der Lacanschen Subjekttheorie.

  • Grenzen: Die Analyse zeigt deutlich, wie Fred in seinem Leben an psychische, soziale und körperliche Grenzen stößt. Die Grenze markiert zugleich den Punkt, an dem Transformation möglich wird.

Schlussbemerkung

Das Gespräch zwischen Tim und Lorenz demonstriert eindrucksvoll, wie eine psychoanalytisch informierte Lesart narrativer Interviews zur Rekonstruktion tiefgreifender Bildungsprozesse beitragen kann. Die Verknüpfung von Lacans Topologie des Subjekts mit der Theorie transformatorischer Bildung und den anthropologischen Kategorien erlaubt eine vielschichtige Analyse der Erzählung Freds. Sie macht sichtbar, wie sich im symbolischen Aneignen, im emotionalen Durchleben und im praktischen Wandel ein neues Verhältnis zur Welt und zum Selbst ausbilden kann – getragen von Sprache, Begegnung und der Arbeit am eigenen Leben.

Transformatorische Bildung – Folge 157 „Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte“

Carina, Ben und ich unterhalten uns über das narrative Interview mit Anna* (FR413). Sie beschreibt ihren Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte, einem mongolischen Zelt. Vergleich: Wikipedia zur Jurte.
Zu Anfang besprechen wir drei theoretische Herangehensweise an das empirische Material: die transformatorische Bildung nach Koller mit der Analyse rhetorischer Figuren. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas. Und zum Schluss die anthropologischen Kategorien von Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen.
Wir gehen in den darauffolgenden Analyse einzelner Textteile vom Diachronen zum Synchronen vor und besprechen den Verlauf des Interviews mit der Transformationstheorie und der Trias. Als theoretische Referenzen verwenden wir die Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels und das Register des Imaginären und den Prozess der Identifikation nach Lacan. An manchen Stellen zeigen sich auch Anrufungen als “zu junge Mutter” im Sinne von Butlers. Nach dem Durchgang der einzelnen Sequenzen aus dem Interview versuchen wir, die Verlaufsform des Interviews zu bestimmen. Am Ende der Analyse sammeln wir die anthropologischen Kategorien ein, die sich im Aspekt des Raumes bündeln und alle Kategorien verknüpfen. Zum Schluss gehen wir die Performativität der Erzählung in Bezug auf das Buch Erzählende Affen durch und versuchen zu beschreiben, welche Gattung das Interview als Buch oder Film figuriert. Eine Idee war sich zu fragen, welche Ähnlichkeiten und unterschiede die Narration zum klassischen Bildungsroman hätte, zum Beispiel zu Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Carina und Ben über das Interview FR413 – Folge 157 (GPT)

In dieser Folge analysieren Tim, Carina und Ben das narrative Interview FR413 mit Anna*, die von ihrem biografischen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen erzählt. Im Zentrum steht ihre Entscheidung, aus einem als beengend empfundenen bürgerlichen Leben auszubrechen und ein Leben in einer Jurte zu beginnen – einem mobilen, traditionellen Zelt aus der mongolischen Nomadenkultur. Die Erzählung wird aus drei ineinandergreifenden Perspektiven interpretiert: Transformatorische Bildung nach Koller, Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), sowie den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas. Ergänzt wird die Analyse durch die Phänomenologie des Fremden (Waldenfels), Butlers Theorie der Anrufung und Lacans Konzept der Identifikation.


1. Theoretische Rahmung und Methodik

Tim führt zu Beginn des Gesprächs in die drei zentralen methodologischen Ebenen ein:

  • Transformatorische Bildung als Veränderung grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses, ausgelöst durch Fremdheitserfahrungen, sprachlich greifbar in Metaphern, Antithesen und symbolischen Brüchen.

  • Trias Emotion – Praxis – Theorie, die den Bildungsprozess auf leiblich-emotionaler, handelnder und reflexiver Ebene strukturiert.

  • Anthropologische Kategorien wie Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen, anhand derer Bildungsprozesse in ihrer leiblich-symbolischen und sozialen Verankerung analysiert werden können.

Diese Trias bildet den methodischen Leitfaden für die diachrone Analyse einzelner Sequenzen aus dem Interview.


2. Der „Käfig der Normalität“ – Metaphorische Figuration und erste Fremdheitserfahrung

Zu Beginn schildert Anna ihre Kindheit als „behütet“, jedoch geprägt von Langeweile, innerer Leere und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. In der Jugend wächst der Wunsch, „alles anders“ zu machen als ihre Eltern. Der zentrale Ausdruck dieser Phase ist die Metapher des „Käfigs“, der sowohl als rhetorische Figur als auch als anthropologische Kategorie (Raum, Körper, Grenze) interpretiert wird.

Die Antithese „Käfig – Freiheit“ markiert die Spannung zwischen altem und ersehntem Weltverhältnis. Diese metaphorische Opposition wird zum Ausgangspunkt eines transformatorischen Begehrens, das sowohl emotionale Antriebskraft als auch imaginäre Zukunftsprojektion enthält.


3. Fremdheitserfahrung und Identifikation (Waldenfels / Lacan)

Eine prägende Sequenz der Transformation zeigt sich in der Begegnung mit einem Partner, der ein alternatives Lebensmodell verkörpert: Leben im Wald, Selbstbau eines Hauses, Verzicht auf fließendes Wasser und Heizung. Anna beschreibt diese Lebensweise als „total fremd“ und zugleich faszinierend. Diese Ambivalenz des Fremden (Waldenfels) – als beängstigend und zugleich anziehend – wird als Initiationserfahrung gelesen.

Lacan’s Theorie der Identifikation spielt hier eine zentrale Rolle: Der Partner fungiert als Symbolfigur, mit der sich Anna identifiziert. Die Entscheidung, mit ihm zu leben, markiert einen performativen Akt der Aneignung eines neuen Weltverhältnisses. Dies ist kein rationaler Entschluss, sondern ein tiefgreifender Prozess symbolischer Orientierung und Subjektwerdung.


4. Emotion – Praxis – Theorie (Trias)

Der Bildungsprozess entfaltet sich entlang der drei Dimensionen:

  • Emotion: Gefühle von Enge, Neugier, Faszination, Angst und Erregung.

  • Praxis: Erste konkrete Veränderungen im Lebensstil, etwa das Leben in der Jurte, Holzheizen, Rückzug aus der Konsumgesellschaft.

  • Theorie: Reflexionen über das Schulsystem, Kritik an gesellschaftlichen Normen, Entwicklung alternativer Lebenskonzepte.

Besonders deutlich wird die Verschiebung vom Emotionalen zur Praxis durch die progressive Aneignung der Umwelt: vom symbolischen Käfig zur konkreten Jurte als Ort eines selbstgewählten, freien Lebens.


5. Anthropologische Kategorien: Raum als Verknüpfungsachse

Im synchronen Rückblick auf das gesamte Interview zeigt sich eine Bündelung der anthropologischen Kategorien im Aspekt des Raumes:

  • Raum: Der Wechsel vom normierten Wohnraum zum offenen Lebensraum der Jurte ist Ausdruck eines veränderten Raumverhältnisses.

  • Körper: Körperliche Erfahrungen im Wald (Kälte, Feuerholz, Selbstversorgung) prägen das neue Selbstverhältnis.

  • Soziales: Der Kontakt zu Gleichgesinnten in alternativen Lebensgemeinschaften ersetzt die Normstrukturen des familiären Milieus.

  • Zeit: Der Alltag folgt neuen Rhythmen – naturnah, nicht durch Uhrzeit oder Wochenstruktur determiniert.

  • Kultur: Die Interviewpartnerin eignet sich ein anderes kulturelles Skript an – abseits kapitalistischer Lebensentwürfe.

  • Subjekt: Der Wandel führt zu einem neuen Selbstverständnis, das sich narrativ in der Figur der Aussteigerin artikuliert.

  • Grenzen: Die Grenzziehung gegenüber der „alten Welt“ ist zentral – symbolisch, räumlich, sozial und existenziell.


6. Performativität und Imaginäres – Bildungsroman und Erzählfiguren

Am Ende des Gesprächs diskutieren die drei, inwiefern das Interview als Narration gestaltet ist. Der Bezug auf Die erzählenden Affen (Samira El Ouassil, Friedemann Karig) und der Vergleich mit dem Bildungsroman (z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre) verweisen auf die literarische Struktur der biografischen Erzählung:

  • Eine Heldin verlässt das Bekannte,

  • begegnet dem Fremden,

  • erfährt eine Krise,

  • transformiert ihr Selbstbild,

  • und kehrt mit einer neuen Lebensform zurück (die Jurte als symbolischer Ort des „anderen Lebens“).

Die Performativität liegt nicht nur im gelebten Wandel, sondern auch in der sprachlichen Gestaltung der Erzählung, die neue Wirklichkeiten imaginiert und zugleich Wirklichkeit formt.

 

Transformatorische Bildung – Folge 155 „Anthropologische Bildungsforschung? Wie lässt sich die Verarbeitung einer Alkoholsucht mit Hilfe der Pädagogischen Anthropologie analysieren?“

Aysel und ich unterhalten uns über ein narratives Interview mit Nadine*, die ihre Drogen- und Alkoholsucht mit Hilfe der Anonyme Alkoholiker überwindet. Dabei beziehen wir uns auf verschiedene Theorien.

  1. Koller unterscheidet zwischen Welt, Anderen und Selbstverhältnis.
  2. Zirfas zwischen Emotion, Praxis und Theorie
  3. Lacan zwischen Reales, Symbolisches und Imaginäres (RSI)

Dieses kombinieren wir mit den anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt in seinen Grenzen aus dem Handbuch Pädagogische Anthropologie.

Als Frage im Hintergrund steht, inwiefern man in der Kombination aus Pädagogische Anthropologie und transformatorischer Bildung anhand narrativer Interviews eine Anthropologische Bildungsforschung entwickelt werden könnte und welche methodischen Zugänge dazu relevant sein könnten.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Aysel über das Interview mit Nadine – Folge 155 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Aysel ein narratives Interview mit Nadine*, die über ihre langjährige Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie über ihren Genesungsweg mithilfe der Anonymen Alkoholiker berichtet. Im Zentrum steht die Frage, wie sich tiefgreifende biografische Brüche und Heilungsprozesse als Bildungsprozesse im Sinne transformatorischer Bildung rekonstruieren lassen. Zugleich wird diskutiert, wie sich aus der Kombination von transformatorischer Bildung und pädagogischer Anthropologie ein methodischer Zugang zur anthropologischen Bildungsforschung entwickeln lässt.

1. Theoretischer Rahmen: Drei Triaden als Analyseraster

Die Analyse stützt sich auf drei Theorieachsen:

  • Transformatorische Bildung nach Koller (Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis),

  • Trias von Emotion, Praxis, Theorie (Zirfas),

  • Lacans Register RSI (Reales, Symbolisches, Imaginäres).

Diese werden ergänzt durch die anthropologischen Kategorien (Körper, Raum, Zeit, Soziales, Kultur, Subjekt, Grenze), wie sie im Handbuch Pädagogische Anthropologie (Wulf/Zirfas) systematisiert wurden.

2. Nadines Biografie: Von der Leerstelle zur Transformation

Nadine beschreibt eine frühe existenzielle Entfremdung, beginnend mit der Aussage ihrer Mutter, sie sei kein Wunschkind. Dieses Erlebnis markiert einen biografischen Bruch, den sie mit dem Gefühl „nicht dazuzugehören“ verbindet. Dieses Gefühl zieht sich durch ihre Jugend und wird zur prägenden Phantasie ihres Welt- und Selbstverhältnisses – ein fixiertes Phantasma im Sinne Lacans.

Ihr Weg in die Drogenszene beginnt früh: Sie konsumiert ab 13/14 Jahren Alkohol und Drogen, arbeitet später als DJ in der Partyszene. Der Drogenkonsum wird dabei zu einem imaginären Instrument, mit dem sie versucht, das Gefühl der Isolation zu kompensieren und ein alternatives Selbstbild als „coole, beliebte Frau“ zu erzeugen.

3. Lacan: RSI in der Analyse

  • Imaginäres: Nadine identifiziert sich mit dem Bild einer starken, begehrenswerten Frau in der Partyszene. Alkoholiker sind für sie zunächst „Assis“, Drogenkonsumenten hingegen „cool“. Das zeigt die Macht der Bilder und Zuschreibungen in der Identifikation.

  • Symbolisches: Erst in den Meetings der Anonymen Alkoholiker beginnt sie, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Sprache eröffnet ihr neue Deutungsmuster und soziale Ordnungen. Das Sprechen selbst wird zur symbolischen Praxis, die das Imaginäre unterbricht.

  • Reales: Das Reale manifestiert sich in Erfahrungen, die sich dem Symbolischen entziehen – körperliches Leiden, Kontrollverlust, das Erleben als „Substanz eingefahren“. Diese Momente sind traumatisch, unbenennbar, aber dennoch zentral für die Transformation.

4. Trias von Emotion, Praxis, Theorie

  • Emotion: Scham, Einsamkeit, das Gefühl „nicht gewollt“ zu sein.

  • Praxis: Partyleben, DJ-Karriere, Substanzkonsum, später Meetings bei den AA.

  • Theorie: Reflexion über ihre Biografie, über Sucht, über das Verhältnis zur Familie und zu sich selbst – insbesondere im Rückblick.

Diese Trias strukturiert den Bildungsprozess als Bewegung von affektiver Dissoziation über konkrete Krisenpraktiken hin zur narrativen Integration und Deutung.

5. Anthropologische Kategorien

Die Erfahrungen Nadines lassen sich durch die anthropologischen Kategorien differenzieren:

  • Körper: Der Körper ist Ort der Sucht, des Begehrens und der Abstinenz. Auch der Schwangerschaft kommt eine transformatorische Bedeutung zu.

  • Raum: Clubs, Partyszene, die Meetingsräume der AA – Räume konstituieren den Wandel des Weltbezugs.

  • Zeit: Die Erzählung gliedert sich deutlich in Vorher-Nachher, markiert durch Übergänge, Rückfälle und Einsichtsmomente.

  • Soziales: Isolation, Gruppenzugehörigkeit, spätere Anerkennung in der Gemeinschaft der AA.

  • Kultur: Der Unterschied zwischen Partykultur, Konsumkultur und der symbolischen Kultur der AA wird zum Bildungsfeld.

  • Subjekt: Nadine wird im Interview als sprechendes Subjekt sichtbar – nicht mehr Objekt von Zuschreibungen, sondern Erzählerin ihrer Wandlung.

  • Grenzen: Zwischen Imagination und Realität, Zugehörigkeit und Einsamkeit, Sucht und Abstinenz – das Interview kreist um Grenzerfahrungen.

6. Bildungsforschung als methodische Synthese

Im Hintergrund eures Gesprächs steht die methodische Frage: Wie kann aus der Verbindung von transformatorischer Bildung, Lacan und pädagogischer Anthropologie eine eigenständige anthropologische Bildungsforschung entstehen?

Die Folge zeigt, wie ein methodischer Zugang aussehen kann:

  • Narrative Interviews als Zugang zu biografischer Selbstdeutung,

  • Mehrdimensionale Theorieraster (RSI, Trias, anthropologische Kategorien) zur Strukturierung,

  • Interpretation rhetorischer Figuren als Zugang zu Transformationsmomenten,

  • und eine sensible Hermeneutik des Unaussprechlichen, die das Reale, das Nicht-Repräsentierbare mitdenkt.

 

Transformatorische Bildung – Folge 152 „Identifikation und Symbolisierung als Anlass für Transformationen bei den Anonymen Alkoholikern (AA)“

Mailine und ich unterhalten uns über das Interview von Luca* (FR383). Wie hat er seinen Weg aus der Sucht gefunden. Dabei beziehen wir uns auf die drei Register: Symbolisch, imaginär und real bei Lacan.

„Eines morgens bin ich aufgewacht, war so ungefähr zwei Wochen später, nachdem ich diese Leberwerte bekommen, habe, dann habe ich zu meinem Hörer gegriffen, und dann habe ich die anonym Alkoholiker angerufen und hab gesagt, hey, ähm ich glaube, ich habe ein Alkoholproblem, dann habe ich das geschildert, und dann hat die Person mir am Telefon gesagt, so hört sich ganz danach an, als hättest du eins, und dann muss ich mir ja weinen, weil das einfach, dann war es besiegelt, also für mich. Und dann habe ich auch das erste Mal gesagt, ja, ich, ich bin Alkoholiker, und hat die Person gesagt, gut, dann kommt es heute Abend ins Meeting, und ähm, ja (.), und das war die beste Entscheidung, wahrscheinlich eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Wenn ich die Beste, auf jeden Fall die Beste in den letzten 15 Jahren, kann man sagen, weil äh ich bin da hingegangen, und ich habe gedacht, ich treffe jetzt den fünfundfünfzig jährigen Lkw Fahrer, der gerade seine Frau verloren hat, und alles so wie in diesen Filmen. Aber das war nicht so, waren zum größten Teil Leute in meinem Alter, manche bisschen älter, manche ein bisschen jünger, und die waren alle völlig normal. Aber die haben halt alle den Alkoholproblemen gehabt, und ich konnte mich damit wahnsinnig vielen identifizieren, und hab halt auch gemerkt, Alkolismus hat so, und in allen sozialen Schichten und in allen berufen und egal welchen Alters, ist es überall vertreten, und dann könnte ich das annehmen, und dann habe ich angefangen, daran zu arbeiten. (.)“ (FR383, Z. 437 – 453)

Zum Schluss diskutieren wir weitere Herangehensweisen:

So stellt sich die Frage, wie die Bedeutung der Praxis aus der Trias von Emotionen, Praxis und Theorie von Jörg Zirfas ist.

Zudem diskutieren wir kurz die anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt und Grenzen aus der Handbuch Pädagogische Anthropologie von Wulf/Zirfas.

Transformatorische Bildung – Folge 148 „Die Erschrockenheit über sich selbst – Frauen bei den Anonymen Alkoholikern (AA)“

Sophia und ich unterhalten uns über ihre Bachelorarbeit. Sie hat drei Frauen interviewt, die ihren Weg aus der Alkoholsucht gefunden haben: „Anhand von narrativen Interviews, welche im Vorfeld dieser Arbeit mit drei trockenen Alkoholikerinnen geführt wurden, soll der Moment der Transformation herausgearbeitet werden. Es soll untersucht werden, wie es diesen Frauen gelungen ist, ihren Alkoholismus hinter sich zu lassen“

„Die AA-Gemeinschaft wurde 1935 von zwei Alkoholikern, Bill W. und Dr. Bob, in den Vereinigten Staaten gegründet (vgl. Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft e.V. 2011, S. VIIf.). Bill hat die Erfahrungen von Mitgliedern der Gemeinschaft aufgeschrieben und 1939 unter dem Titel „Alcoholics Anonymous“ veröffentlicht, wodurch auch der Name der Gemeinschaft entstanden ist (vgl. ebd.). Dieses Buch wird von der Gemeinschaft wie eine Art Leitfaden für die Genesung verwendet (vgl. ebd., S. XI). Die Aufgabe aller Mitglieder dieser Gemeinschaft ist es, die Nachricht weiter hinaus an noch leidende Alkoholiker*innen zu tragen und ihnen zu verdeutlichen, dass es eine Lösung gibt, wodurch sich auch die AA-Gemeinschaft immer mehr vergrößert (vgl. ebd., S. 69). Nun stellt sich allerdings weiterhin die Frage, weshalb gerade dieses Konzept so besonders erfolgreich ist, wenn es um die Genesung geht.“

Im Podcast diskutieren wir, inwiefern die Identifikationsangebote im Imaginären zur Transformation beitragen und welche Bedeutung das Sprechen oder Symbolisieren dabei hat.  Dabei beziehen wir uns auf die drei Register Symbolisches, Imaginäres und Reales (kurz: RSI) bei Lacan.

Als Frage bleibt, welche Bedeutungen in diesem Kontext Praktiken wie das 12 Schritte Programm haben.

 

Weitere Infos zu Lebensgeschichten in AA findet ihr auf der Webseite: Vom Trinken und vom Nüchtern werden.

 

Transformatorische Bildung – Folge 146 „Anrufung eines Menschen mit Essstörung“

Marie und ich unterhalten uns über ein narratives Interview (FR186), in dem die interviewte Personen Marie* ihren Weg aus einer Essstörung/Magersucht beschreibt. Als theoretische Grundlage dient uns das Konzept der Anrufung von Butler.

„Es stellt sich die Frage, ob Sprache uns verletzen könnte, wenn wir nicht in einem bestimmten Sinne »sprachliche Wesen« wären, die der Sprache bedürfen, um zu sein“ (Butler 2016, S. 9).
„Äm und die hat ganz klar zu mir gesagt (.) dein Gewicht, was du jetzt hast, ist eigentlich äm das Gewicht- du müsstest eigentlich in ne Klinik. Es ist viel zu wenig. Du bist viel zu ja äm (.) abgemagert? sozusagen. Ist irgendwie so ein doofes Wort (.) äm und äm (2) ja äm (.)“ (FR186, Z. 206-209).

Information und ein Beratungstelefon gibt es beim Bundesministerium für Gesundheit.

Einen weiteren Podcast von mir zu dem Thema Magersucht gibt es hier: Transformatorische Bildung – Folge 142 „Magersucht und die Wahrnehmung des eigenen Körpers“

Marie empfiehlt besonders folgenden Text von Koller und Rose zu Butler:

Rose, Nadine & Koller, Hans-Christoph (2012): Interpellation – Diskurs – Performativität. Sprachtheoretische Konzepte im Werk Judith Butlers und ihre bildungstheoretischen Implikationen. In: Ricken, Norbert & Balzer, Nicole (Hrsg.): Judith Butler: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer (S. 75-94).

Transformatorische Bildung – Folge 142 „Magersucht und die Wahrnehmung des eigenen Körpers“

Luisa und ich unterhalten uns über ein narratives Interview. In diesem geht es um eine junge Frau, die an Magersucht erkrankt ist und wie sie ihren Weg raus aus der Sucht gefunden hat.

„Also da ich das so früh bekommen habe und auch schon so früh so viele schlimme Erfahrungen gemacht habe {…}. Und ich bin auch ein Stück weit, nicht erwachsen geworden, aber es hat mir so (.) ich kann viel besser jetzt Sachen nachempfinden. Ich bin in Sachen schon weiter, weil ich die Erfahrungen schon gemacht hab und die anderen Leute einfach nicht hatten {…}in vielen Situationen bin ich dann einfach schon entwickelter sozusagen. (FR352, Z. 486-493)

Transformatorische Bildung – Folge 136 “und man konnte nur die Füße sehen. Das Reale und der Blick“

Mit Julian unterhalte ich mich über ein Interview mit einer Fachkrankenpfegerin über ihre Erfahrungen nach Corona.

Transformatorische Bildung – Folge 135 “So ein altes Album. Veränderungen durch die psychoanalytische Kur.“

Mit Sophia unterhalte ich mich über ein sehr spannendes Interview, indem es darum geht, ob und wie man sich die eine Psychoanalyse verändern oder transformieren kann.

„Das Unbewusste ist jenes Kapitel meiner Geschichte, das durch eine Leerstelle (blanc) markiert oder durch eine Lüge besetzt ist: Es ist das zensierte Kapitel. Doch die Wahrheit kann wiedergefunden werden.

  • in den Monumenten: und dies ist der Leib
  • in den Dokumenten aus Archiven auch: und dies sind die Erinnerung meiner Kindheit
  • in der semantischen Entwicklung
  • in den Überlieferungen auch,
  • in den Spuren schließlich, die durch die Anpassung des verfälschten Kapitels in die es umrahmenden Kapitel erzwungen werden, …“ (Lacan. Sprechen und Sprache in der Psychoanalyse. Schriften 1. übers. Gondek, S. 305 – 306)

 

„…und zurück blicke, ist das so, wie so ne (.) alte Geschichte, so ein altes Album, was ich aufschlage und dann so: ach damals, damals, ich hab das Gefühl, ich hab schon zehn Leben gelebt so [mh], das ist so total verrückt“ (FR318, Z921 – 923)

Transformatorische Bildung – Folge 134 “Aha, über eins-neunzig groß, sportlich: Bundeswehr-Feldjäger“

Mit Lina unterhalte ich mich über die Psychoanalyse von Lacan. Dabei gehen wir die drei Register: Reales, Symbolische, Imaginäres (RSI) durch. Der Podcast ist auch als eine kompakte Einführung in die Psychoanalyse nach Lacan zu lesen. (FR305)