Ronja und ich unterhalten uns über ihre Bachelorarbeit, in der sie mit Hilfe der anthropologischen Bildungsforschung die Erzählung einer Person mit Tetraspatik analysiert.
Dabei gehen wir nach den vier Analyseschritten der anthropologischen Bildungsforschung vor:
- Transformatorische Bildung nach Kokemohr und Koller in der Analyse der sprachlichen Figuren
- Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, um die diachrone Ebene des Interviews beschreiben zu können
- Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper., Raum, Zeit, Soziales, Kultur, Subjekt und Grenzen), um das Interview in der synchronen Ebene zu analysieren zu können.
- Die Frage nach der Performatitvität, um die Gesamtgestalt der Erzählung als Bildungsfiguration zu beschreiben.
Zentral ist dabei die Theorie der Anrufung und Resignifizierung nach Butler, die sich über Materialisierung in allen anthropologischen Kategorien zeigt.
Das Interview bündelt sich über die Besprechung der verschiedenen Räume (Schule, Berufsbildungswerk, Altenheim , teilstationäre WG)
Mit dem Hund ist zudem eine wichtige Bildungsfigur angesprochen.
(Zusammenfassung GPT). Einleitung: Bildung und Behinderung – Die Stimme einer Betroffenen
In der Podcastfolge sprechen Ronja und Tim über Ronjas Bachelorarbeit, in der sie mithilfe der anthropologischen Bildungsforschung die narrative Erzählung einer Person mit Tetraspatik analysiert. Ausgangspunkt ist ein Interview, das Ronja mit einer jungen Frau geführt hat, deren Leben von einer frühkindlich erworbenen Mehrfachbehinderung geprägt ist. Die Erzählung der Interviewten wird dabei nicht nur als biografische Rückschau verstanden, sondern als performative Bildungsfigur, in der sich subjektive Transformation, soziale Räume und sprachliche Materialisierung miteinander verschränken.
1. Transformatorische Bildung und die Figur des Widerstands
Im ersten Analyseschritt wird die sprachliche Gestaltung der Erzählung unter dem Gesichtspunkt transformatorischer Bildung nach Koller und Kokemohr betrachtet. Im Zentrum steht hierbei das Konzept des Widerstands. Die Erzählerin verwendet wiederholt Metaphern, Kontrastierungen und direkte Bewertungen, um den Spannungsbogen zwischen dem institutionellen Rahmen (z. B. Schule, Altenheim) und dem eigenen Selbstverhältnis herauszuarbeiten. In der Schule wird sie systematisch unterschätzt und durch Klassifizierungspraxen (z. B. “geistige Behinderung”) in ihrer Subjektwerdung behindert. Ihre sprachlichen Figuren sind dabei nicht bloß illustrative Mittel, sondern Träger eines symbolischen Protestes. Die performative Kraft der Sprache liegt insbesondere in der resignifizierenden Aneignung von Zuschreibungen, etwa wenn sie den Begriff „behindert“ aufgreift, um ihn mit biografischer Stärke zu konfrontieren.
2. Emotion – Praxis – Theorie: Die Trias der biografischen Dynamik
Die Analyse der Trias nach Zirfas zeigt, wie sich die emotionale, praktische und theoretische Ebene im Erzählverlauf diachron entfaltet. Emotionale Momente sind eng mit Situationen der Diskriminierung und des Empowerments verbunden – etwa das Gefühl der Enteignung im schulischen Raum versus das Gefühl von Gemeinschaft und Autonomie in späteren Kontexten wie der WG oder im Umgang mit ihrem Hund. Auf der Praxisebene wird besonders deutlich, wie sehr alltägliche Handlungen – etwa das Sprechen, das Wohnen, das Kommunizieren mit dem Hund – als Bildungspraktiken erscheinen. Theoretisch wird das Interview durch Reflexionen auf gesellschaftliche Zuschreibungsmechanismen und Teilhabe gerahmt. Die Erzählerin verknüpft individuelle Erfahrungen mit strukturellen Einsichten, etwa wenn sie den Begriff “Altersheim” problematisiert oder die Bedeutung von Selbstvertretung thematisiert.
3. Anthropologische Kategorien: Körper, Raum und Grenze als zentrale Felder
In der synchronen Analyse treten vor allem drei anthropologische Kategorien hervor: Körper, Raum und Grenze. Der Körper ist nicht nur Träger einer Behinderung, sondern erscheint als umkämpfter Ort der Zuschreibung, des Begehrens nach Autonomie und der kommunikativen Handlung. Ihre Tetraspatik ist dabei nicht einfach ein Defizit, sondern Ausgangspunkt einer anderen Weltwahrnehmung und eines anderen Ausdrucks. Der Raum zeigt sich als zutiefst normativ strukturiert – von der Schule über das Berufsbildungswerk bis zur teilstationären Wohngruppe. Diese Räume markieren nicht nur Stationen, sondern sind Orte der Auseinandersetzung und des Wandels. Die Grenze erscheint schließlich sowohl körperlich als auch sozial, etwa in Form sprachlicher Barrieren, der Unsichtbarkeit in Gruppen oder der strukturellen Ausgrenzung. Zugleich zeigen sich Momente der Grenzüberschreitung – etwa durch das Durchsetzen des eigenen Wohnwunsches oder das Sprechen über Sexualität und Nähe.
4. Performativität und Resignifizierung: Die Sprache als Bildungsfigur
Im vierten Analyseschritt steht die performative Dimension der Erzählung im Zentrum. Ausgehend von Judith Butlers Theorie der Anrufung und Resignifizierung wird deutlich, dass die Erzählerin nicht nur über ihr Leben berichtet, sondern es zugleich in Szene setzt. Ihre Sprache bringt ihre Subjektivität performativ hervor – nicht als gegebene Identität, sondern als fortwährende Aushandlung. Dies zeigt sich exemplarisch in der Art, wie sie Zuschreibungen aufnimmt, bearbeitet und in ein neues Bedeutungsfeld überführt. Besonders eindrucksvoll ist dies in ihrer Beziehung zu ihrem Hund: Der Hund wird zur Bildungsfigur, weil er als Resonanzpartner wirkt – nicht urteilend, sondern zugewandt. In dieser Beziehung werden neue Formen von Nähe, Kommunikation und Anerkennung erfahrbar, die im Kontrast zu institutionellen Kontexten stehen. Damit erscheint die Erzählung als ein Prozess der symbolischen Selbstermächtigung, in dem sich Bildungsprozesse nicht im klassischen Sinne von Wissensaneignung, sondern als Neugestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses vollziehen.
Schlussbemerkung: Erzählung als Bildung der Differenz
Die Podcastfolge macht eindrücklich deutlich, wie das narrativ-performative Interview nicht nur Inhalte transportiert, sondern Bildungsprozesse selbst sichtbar macht. Die Anwendung der anthropologischen Bildungsforschung ermöglicht es, biografische Transformationen im Spannungsfeld von Körper, Sprache und Gesellschaft analytisch zu erfassen – und damit Bildung als tiefgreifende Refiguration des Verhältnisses zur Welt zu begreifen.