Transformatorische Bildung – Folge 166 „Die waren quasi meine Pinkys und ich war deren Brain.“ Anthropologische Bildungsforschung einer Person mit Tetraspastik

Ronja und ich unterhalten uns über ihre Bachelorarbeit, in der sie mit Hilfe der anthropologischen Bildungsforschung die Erzählung einer Person mit Tetraspatik analysiert.

Dabei gehen wir nach den vier Analyseschritten der anthropologischen Bildungsforschung vor:

  1. Transformatorische Bildung nach Kokemohr und Koller in der Analyse der sprachlichen Figuren
  2. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, um die diachrone Ebene des Interviews beschreiben zu können
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper., Raum, Zeit, Soziales, Kultur, Subjekt und Grenzen), um das Interview in der synchronen Ebene zu analysieren zu können.
  4. Die Frage nach der Performatitvität, um die Gesamtgestalt der Erzählung als Bildungsfiguration zu beschreiben.

Zentral ist dabei die Theorie der Anrufung und Resignifizierung nach Butler, die sich über Materialisierung in allen anthropologischen Kategorien zeigt.

Das Interview bündelt sich über die Besprechung der verschiedenen Räume (Schule, Berufsbildungswerk, Altenheim , teilstationäre WG)

Mit dem Hund ist zudem eine wichtige Bildungsfigur angesprochen.

 

(Zusammenfassung GPT). Einleitung: Bildung und Behinderung – Die Stimme einer Betroffenen

In der Podcastfolge sprechen Ronja und Tim über Ronjas Bachelorarbeit, in der sie mithilfe der anthropologischen Bildungsforschung die narrative Erzählung einer Person mit Tetraspatik analysiert. Ausgangspunkt ist ein Interview, das Ronja mit einer jungen Frau geführt hat, deren Leben von einer frühkindlich erworbenen Mehrfachbehinderung geprägt ist. Die Erzählung der Interviewten wird dabei nicht nur als biografische Rückschau verstanden, sondern als performative Bildungsfigur, in der sich subjektive Transformation, soziale Räume und sprachliche Materialisierung miteinander verschränken.


1. Transformatorische Bildung und die Figur des Widerstands

Im ersten Analyseschritt wird die sprachliche Gestaltung der Erzählung unter dem Gesichtspunkt transformatorischer Bildung nach Koller und Kokemohr betrachtet. Im Zentrum steht hierbei das Konzept des Widerstands. Die Erzählerin verwendet wiederholt Metaphern, Kontrastierungen und direkte Bewertungen, um den Spannungsbogen zwischen dem institutionellen Rahmen (z. B. Schule, Altenheim) und dem eigenen Selbstverhältnis herauszuarbeiten. In der Schule wird sie systematisch unterschätzt und durch Klassifizierungspraxen (z. B. “geistige Behinderung”) in ihrer Subjektwerdung behindert. Ihre sprachlichen Figuren sind dabei nicht bloß illustrative Mittel, sondern Träger eines symbolischen Protestes. Die performative Kraft der Sprache liegt insbesondere in der resignifizierenden Aneignung von Zuschreibungen, etwa wenn sie den Begriff „behindert“ aufgreift, um ihn mit biografischer Stärke zu konfrontieren.


2. Emotion – Praxis – Theorie: Die Trias der biografischen Dynamik

Die Analyse der Trias nach Zirfas zeigt, wie sich die emotionale, praktische und theoretische Ebene im Erzählverlauf diachron entfaltet. Emotionale Momente sind eng mit Situationen der Diskriminierung und des Empowerments verbunden – etwa das Gefühl der Enteignung im schulischen Raum versus das Gefühl von Gemeinschaft und Autonomie in späteren Kontexten wie der WG oder im Umgang mit ihrem Hund. Auf der Praxisebene wird besonders deutlich, wie sehr alltägliche Handlungen – etwa das Sprechen, das Wohnen, das Kommunizieren mit dem Hund – als Bildungspraktiken erscheinen. Theoretisch wird das Interview durch Reflexionen auf gesellschaftliche Zuschreibungsmechanismen und Teilhabe gerahmt. Die Erzählerin verknüpft individuelle Erfahrungen mit strukturellen Einsichten, etwa wenn sie den Begriff “Altersheim” problematisiert oder die Bedeutung von Selbstvertretung thematisiert.


3. Anthropologische Kategorien: Körper, Raum und Grenze als zentrale Felder

In der synchronen Analyse treten vor allem drei anthropologische Kategorien hervor: Körper, Raum und Grenze. Der Körper ist nicht nur Träger einer Behinderung, sondern erscheint als umkämpfter Ort der Zuschreibung, des Begehrens nach Autonomie und der kommunikativen Handlung. Ihre Tetraspatik ist dabei nicht einfach ein Defizit, sondern Ausgangspunkt einer anderen Weltwahrnehmung und eines anderen Ausdrucks. Der Raum zeigt sich als zutiefst normativ strukturiert – von der Schule über das Berufsbildungswerk bis zur teilstationären Wohngruppe. Diese Räume markieren nicht nur Stationen, sondern sind Orte der Auseinandersetzung und des Wandels. Die Grenze erscheint schließlich sowohl körperlich als auch sozial, etwa in Form sprachlicher Barrieren, der Unsichtbarkeit in Gruppen oder der strukturellen Ausgrenzung. Zugleich zeigen sich Momente der Grenzüberschreitung – etwa durch das Durchsetzen des eigenen Wohnwunsches oder das Sprechen über Sexualität und Nähe.


4. Performativität und Resignifizierung: Die Sprache als Bildungsfigur

Im vierten Analyseschritt steht die performative Dimension der Erzählung im Zentrum. Ausgehend von Judith Butlers Theorie der Anrufung und Resignifizierung wird deutlich, dass die Erzählerin nicht nur über ihr Leben berichtet, sondern es zugleich in Szene setzt. Ihre Sprache bringt ihre Subjektivität performativ hervor – nicht als gegebene Identität, sondern als fortwährende Aushandlung. Dies zeigt sich exemplarisch in der Art, wie sie Zuschreibungen aufnimmt, bearbeitet und in ein neues Bedeutungsfeld überführt. Besonders eindrucksvoll ist dies in ihrer Beziehung zu ihrem Hund: Der Hund wird zur Bildungsfigur, weil er als Resonanzpartner wirkt – nicht urteilend, sondern zugewandt. In dieser Beziehung werden neue Formen von Nähe, Kommunikation und Anerkennung erfahrbar, die im Kontrast zu institutionellen Kontexten stehen. Damit erscheint die Erzählung als ein Prozess der symbolischen Selbstermächtigung, in dem sich Bildungsprozesse nicht im klassischen Sinne von Wissensaneignung, sondern als Neugestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses vollziehen.


Schlussbemerkung: Erzählung als Bildung der Differenz

Die Podcastfolge macht eindrücklich deutlich, wie das narrativ-performative Interview nicht nur Inhalte transportiert, sondern Bildungsprozesse selbst sichtbar macht. Die Anwendung der anthropologischen Bildungsforschung ermöglicht es, biografische Transformationen im Spannungsfeld von Körper, Sprache und Gesellschaft analytisch zu erfassen – und damit Bildung als tiefgreifende Refiguration des Verhältnisses zur Welt zu begreifen.

 

Transformatorische Bildung – Folge 165 „Ich kenne viele Leute hier, ihr alle kennt Nina.“ Flucht aus Syrien

Emma, Lena und ich unterhalten uns über eine Fluchterzählung (FR451) aus Syrien und die Wiedergeburt im neuen Land.

Dabei beziehen wir uns auf die

  1. Transformationstheorie nach Kokemohr und Koller
  2. Das Konzept der Fremdheitserfahrung nach Waldenfels
  3. die Trias von Emotion, Praxis und Theorie
  4. die sieben anthropologischen Kategorien von Körper, Raum, Zeit, Soziale, Kultur, Subjekt und Grenzen
  5. Und die Frage der Performativität, also wie das Interview gestaltet ist.

Besonders interessant fand ich die Frage der Übergangsfiguren im Interview, die einen neuen Zugang zur Welt ermöglichen.

Wir gehen zudem auf das Konzept der Natalität nach Hannah Arendt ein.

„Auch an der Natalität sind alle Tätigkeiten gleicherweise orientiert, da sie immer auch die Aufgabe haben, für die Zukunft zu sorgen, bzw. dafür, daß das Leben und die Welt dem ständigen Zufluß vom Neuankönnlingen, die als Fremdlinge in sie hineingeboren werden, gewachsen auf ihn vorbereitet bleibt. (…) Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in der Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handlen.“ (Arendt 2023, S. 25)

Arndt, Hannah (2023): Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper 3. Aufl.

(Zusammenfassung der Folge von GPT.)

Einleitung: Stimmen der Flucht 

In der 165. Folge des Podcasts „Transformatorische Bildung“ sprechen Tim, Emma und Lena über ein narratives Interview mit einer Frau, die unter dem Pseudonym „Nina“ geführt wird. Das Interview dokumentiert ihre Flucht aus Syrien im Jahr 2015 gemeinsam mit ihrem Sohn und thematisiert die anschließende Neuorientierung in Deutschland. Der Fokus des Gesprächs liegt auf Bildungsprozessen im Sinne einer Wiedergeburt im neuen Land, verstanden als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses unter widrigsten Bedingungen. Dabei werden zentrale theoretische Bezugspunkte eingebracht: die Transformationstheorie nach Kokemohr und Koller, Waldenfels’ Konzept der Fremdheitserfahrung, die anthropologische Trias von Emotion, Praxis und Theorie sowie die sieben anthropologischen Kategorien. Ergänzt wird das Gespräch durch Arendts Begriff der Natalität, verstanden als Möglichkeit des Neuanfangs durch Handeln.


Transformation und Fremdheitserfahrung 

Die Fluchterzählung ist von Anfang an durchzogen von der Sorge um den Sohn, dessen Wohlergehen für Nina zentraler Beweggrund zur Flucht war. Damit wird bereits zu Beginn eine Figur der Natalität im Sinne Arendts sichtbar: die Sorge für die Zukunft der Nachkommenschaft, die als „Fremdlinge in die Welt hineingeboren“ werden. Auf theoretischer Ebene wird das Interview mit Kokemohrs Konzept der „subsumptionsresistenten Erfahrung“ verknüpft, also Erfahrungen, die nicht ohne Weiteres in bestehende Deutungsmuster eingeordnet werden können und daher eine Transformation des Selbstverhältnisses auslösen.

Emma betont die Bedeutung der Fremdheitserfahrung im Sinne Waldenfels’: das passive Erleiden eines Widerfahrnisses, das nicht vollständig durch aktive Handlung kontrolliert werden kann. Diese Erfahrung des Ausgesetztseins und der existenziellen Erschütterung wird in der Flucht – insbesondere während der Bootsfahrt – paradigmatisch sichtbar. Die Erzählung der Interviewten ist geprägt von Wiederholungen wie „Ich habe immer Angst“, die als rhetorische Figur eine drängende, nicht versiegende Angst markieren. Lena beschreibt diese Sequenz als einen Punkt, an dem Sprache selbst an ihre Grenzen stößt, was sich in Parataxen, Satzabbrüchen und elliptischen Strukturen zeigt.


Emotion – Praxis – Theorie 

Die triadische Struktur der anthropologischen Bildungsforschung nach Zirfas wird exemplarisch entfaltet: Emotionen – insbesondere Angst – prägen die gesamte Erzählung. Sie transformieren sich jedoch im Verlauf zu Formen des Selbstvertrauens und der Selbstbehauptung. Nina entwickelt zunehmend ein neues Selbstbild: vom „Ich kann nicht“ zum „Ich bin Nina – alle kennen mich“. Diese Entwicklung wird als ein Moment positiver Selbstwirksamkeit gedeutet. Damit wird Bildung nicht nur als Leiden an der Welt, sondern auch als aktive Neuorientierung im Handeln sichtbar – eine Bewegung von Passivität zu Autonomie.


Anthropologische Kategorien: Sprache, Körper und Grenzen etc.

Im weiteren Verlauf wird das Interview entlang der sieben anthropologischen Kategorien gelesen. Besonders zentral ist der Körper, der während der Flucht extremen Bedingungen ausgesetzt ist („wir schlafen kaum, wir laufen immer“), sowie die Kategorie der Sprache: Nina beschreibt mehrfach, sie habe „keine Sprache“. Dieser Verlust verweist auf den anthropologischen Grundsatz, dass Bildung wesentlich in der Sprache geschieht – wie Humboldt es nannte: als „Bildungsorgan des Gedankens“. Der sprachliche Neuanfang in Deutschland wird so zu einem symbolischen Akt der Wiedergeburt, der zugleich mit einem Gefühl der Entfremdung verbunden ist. Auch das Gedächtnis, das Erzählen als erinnernde Praxis, wird thematisiert: Das Interview selbst ist ein Versuch, das Unaussprechliche sagbar zu machen – eine Grenzarbeit an der Grenze zwischen Erfahrbarkeit und Mitteilbarkeit.


Geburt, Wiedergeburt und Natalität (ab 00:15)

Die Vorstellung von Geburt als Möglichkeit des Neubeginns wird im Anschluss durch Arendts Konzept der Natalität vertieft. Im Kontext des Interviews erhält dieser Begriff eine doppelte Bedeutung: zum einen biografisch – Nina ist Mutter und ihre Handlung ist auf das Leben ihres Sohnes hin orientiert – zum anderen existenziell – sie selbst erfährt eine Wiedergeburt durch das Ankommen in Deutschland. Diese doppelte Natalität verweist auf das Vermögen, „einen neuen Anfang zu machen“, wie Arendt es formuliert. Besonders eindrucksvoll wird dies in der Entscheidungsszene, als Nina – nach einem Albtraum – sagt: „Ich kann nicht mehr, ich muss weg.“ Diese Sätze erscheinen formal als performative Hauptsätze und markieren einen Wendepunkt, in dem das Unsagbare in Handlung übergeht.


Ambivalenzen von Heimat und Fremde (ab 00:26)

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Ambivalenz des Heimatbegriffs. Obwohl Nina vor dem Krieg floh und der Verlust existenziell war, spricht sie von Heimweh. In der Formulierung „Deutschland ist wie mein Heimatland, aber ich habe Heimweh“ wird ein Zustand des Dazwischen deutlich: eine prekäre Zugehörigkeit, die sich nicht eindeutig verorten lässt. Lena beschreibt dies als Identitätsdifferenz zwischen dem Gefühl von Halb-Syrisch und Halb-Deutsch. Diese Ambiguität ist nicht auflösbar, sondern konstitutiv für das neue Selbstverhältnis.


Fazit: Performativität und Sprachgrenzen (ab 00:34)

Am Ende des Gesprächs wird die Performativität des Interviews reflektiert. Die Erzählung selbst ist bereits ein Bildungsakt – sie macht sichtbar, was sprachlich schwer zu fassen ist. Die Parataxen, Wiederholungen und affektiven Aufladungen markieren Grenzorte der Sprache, an denen die Gewalt des Erlebten durchscheint. Die Interviewten thematisieren die Unmöglichkeit, diese Erfahrungen vollständig zu teilen, aber auch den Versuch, sie dennoch zu vermitteln – ein paradoxales Sprechen des Unsagbaren.


Zusammenfassung:

Die Podcastfolge zeichnet ein dichtes Bild einer biografischen Transformation, die unter existenziellen Bedingungen stattfindet. Die Fluchterfahrung wird dabei nicht nur als politische oder soziale Herausforderung verstanden, sondern als Bildungsprozess im tiefen Sinne: als Umgestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses, in dem Angst, Sprachverlust, Körpererfahrung, Erinnerung, Heimatlosigkeit und Neuanfang miteinander verschränkt sind. Die Kombination aus theoretischer Tiefenschärfe und narrativer Empathie verleiht der Folge eine besondere Dichte – sie macht deutlich, wie Bildung auch an den Rändern des Sagbaren beginnt.

Transformatorische Bildung – Folge 164 „vom Scheitern, vom Leid zum […] Sieg und Erfolg und zum Frieden.“ Erfahrungen mit Makroglossie

Im Gespräch mit Annika unterhalten wir uns über das Interview mit Elias* (FR450). Zentral ist eine Makroglossie, eine Vergrößerung seiner Zunge, die zu verschiedenen Erfahrungen mit Ausgrenzung führt.

Zunächst besprechen wir die vier Bausteine der anthropologischen Bildungsforschung.

  1. Transformatorische Bildung nach Kokemohr und Koller.
  2. Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas.
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen).
  4. Die Frage nach Performativität und Normativität.

Der Bezugstheorie ist das Modell der Anrufung und Resignifizierung nach Butler.

Zusammenfassung GPT.

00:00–00:03: Vorstellung und thematische Einleitung

In dieser Folge des Podcasts „Transformatorische Bildung“ spricht Tim mit der Studentin Annika über ein Interview mit Elias*, einem jungen Mann mit Makroglossie. Die Episode beginnt mit einem kurzen persönlichen Einstieg, in dem Annika von ihrem Studium berichtet – sie studiert Grundschullehramt in Köln, hat aber zuvor bereits ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen. Die Gesprächspartner*innen leiten dann über zur zentralen Fragestellung der Folge: Wie kann die biografische Erzählung von Elias, der mit einer stark vergrößerten Zunge lebt, im Rahmen der anthropologischen Bildungsforschung interpretiert werden?


00:03–00:09: Die vier Bausteine der anthropologischen Bildungsforschung

Tim führt in die vier konzeptionellen Bausteine der Analyse ein: (1) die Theorie der transformatorischen Bildung nach Kokemohr und Koller, (2) die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, (3) die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen), sowie (4) die Frage nach der Performativität und Normativität der Erzählung. Diese Struktur bildet das methodologische Rückgrat der Interviewanalyse.


00:09–00:13: Transformatorische Bildung und rhetorische Figuren

Annika erläutert, wie sie den Begriff der Bildung im transformatorischen Sinne verstanden hat: als tiefgreifende Veränderung grundlegender Welt- und Selbstverhältnisse, erkennbar in sprachlich-rhetorischen Figuren wie Metaphern, Vergleichen und wiederkehrenden Motiven. Diese Figuren erlauben eine Analyse der symbolischen Selbstverortung im Weltbezug. Das Interview mit Elias wird dabei als Zeugnis eines solchen Bildungsprozesses verstanden.


00:13–00:18: Trias von Emotion, Praxis und Theorie

Anschließend wird die Trias (Emotion, Praxis, Theorie) als Strukturierungshilfe erläutert. Annika hebt hervor, dass Elias’ Erzählung nicht in einer linearen Logik dieser drei Phasen verläuft, sondern dass Emotion und Praxis eng verwoben sind. Seine Theorie, also die Bedeutung, die er seinem Lebensweg retrospektiv zuschreibt, lässt sich dennoch rekonstruieren: ein affirmativer Umgang mit erlittenem Schmerz, Krankheit und sozialer Ausgrenzung.


00:18–00:25: Anthropologische Kategorien und ihre heuristische Funktion

Die sieben anthropologischen Kategorien geben laut Annika Orientierung, um das Interview auf wiederkehrende Dimensionen menschlicher Existenz hin zu analysieren. Besonders die Kategorien „Körper“ und „Grenzen“ sind in Elias’ Fall zentral: Sein Körper wird permanent markiert, bewertet und als „abweichend“ klassifiziert. Auch kulturelle und soziale Kontexte werden sichtbar – etwa die schulische Institution als Raum normativer Ordnung.


00:25–00:34: Biografische Kernerinnerung als Szene der Anrufung

Ein zentrales Element des Gesprächs ist die sogenannte „Anrufung“, wie sie bei Judith Butler beschrieben wird. Elias erinnert sich an eine Szene im Kindesalter: Ein älterer Mann streckt ihm auf der Straße die Zunge heraus – eine symbolische Geste der Demütigung, die Elias tief geprägt hat. Diese Szene wird als performative Anrufung gedeutet, durch die Elias als „anders“ oder „abweichend“ adressiert wird – ein Akt, der seine Subjektivierung innerhalb gesellschaftlicher Normen beeinflusst.


00:34–00:43: Schule als Ort der Normalisierung und Widerstand

Eine weitere Szene betrifft ein Gespräch mit einer Schulleiterin, die Elias aufgrund seiner äußeren Erscheinung den Besuch einer Förderschule nahelegt. Die Mutter widersetzt sich dieser Anrufung und verteidigt die Normalität ihres Sohnes. Diese Szene wird als Beispiel einer Resignifizierung gedeutet: Eine normativ ausgrenzende Anrufung wird nicht einfach angenommen, sondern aktiv umgewendet. Elias und seine Mutter beanspruchen eine andere Lesart seiner Subjektivität – jenseits der Pathologisierung.


00:43–00:49: Vulnerabilität und Prekarität nach Butler und Dederich

Im Anschluss werden Butlers Begriffe der Verletzlichkeit und Prekarität mit Markus Dederichs Konzept der körperbezogenen Vulnerabilität verknüpft. Elias’ Körper wird von außen als „abweichend“ markiert – dies erhöht die Wahrscheinlichkeit für Verletzungen im sozialen Raum. Die Szene mit der Zungengeste fungiert dabei als emblematische Chiffre für diese gesellschaftliche Herstellung von Prekarität und Exklusion.


00:49–Ende: Performativität und die transformative Kraft der Erzählung

Gegen Ende reflektieren Tim und Annika über die performative Dimension des Interviews selbst. Elias formuliert seine Geschichte nicht als Opfernarrativ, sondern betont am Ende seine Dankbarkeit und seinen Stolz. Dies lässt sich als eine Form von aktiver Resignifizierung begreifen: Die Narrative wirkt nicht nur retrospektiv erklärend, sondern auch prospektiv identitätsbildend. Die performative Kraft der Erzählung besteht gerade darin, neue Handlungsspielräume im Diskurs zu eröffnen.

 

Transformatorische Bildung – Folge 163 „Erfahrungen einer Mutter im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus“

Dean und ich unterhalten uns über die „Erfahrungen einer Mutter im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus“, die sie im narrativen Interview (FR436) erzählt. Wie gehen zunächst auf die Vorgehensweise der anthropologischen Bildungsforschung ein. Diese besteht aus den vier Schritten.

  1. Transformation nach Kokemohr und Koller
  2. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Raum, Zeit, Subjekt, Kultur und Grenzen nach Wulf und Zirfas
  4. Die Performativität und Normativität der biographischen Erzählung.

Wir besprechen das Interview mit der Theorie des Fremden von Waldenfels.

Zusammenfassung der Folge mit GPT

In der Podcast-Folge 163 diskutieren Dean und der Moderator anhand des narrativen Interviews FR436 die biographische Erfahrung einer Mutter („Maria“) im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus bei ihrem Sohn („Timo“). Die Reflexion erfolgt im Rahmen der anthropologischen Bildungsforschung und integriert zentrale theoretische Bezugspunkte: die Theorie der transformatorischen Bildung (Kokemohr/Koller), die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Subjekt, Kultur, Grenzen) sowie den Begriff der Performativität und Normativität der biografischen Erzählung. Ergänzend wird die Theorie des Fremden von Bernhard Waldenfels zur Analyse herangezogen.

Das Gespräch beginnt mit einer methodischen Einordnung der anthropologischen Bildungsforschung. Transformation wird dabei als eine Umgestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses verstanden, die in krisenhaften Situationen erfolgt und sich sprachlich unter anderem durch rhetorische Figuren ausdrückt. Im Zentrum des Interviews steht eine tiefgreifende Fremdheitserfahrung: Die Mutter, die bereits ein älteres Kind hat, erlebt den jüngeren Sohn als „anders“, als nicht einfügbar in ihre bisherigen pädagogischen und normativen Vorstellungen von Entwicklung. Diese Andersartigkeit manifestiert sich früh: Timo zeigt Rückzugstendenzen, sprachliche Stagnation und eine hohe Lärmempfindlichkeit. Die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ markiert in dieser Hinsicht nicht nur eine medizinische Kategorie, sondern auch eine symbolische Schwelle – eine sprachliche Form, das Fremde überhaupt erst zu benennen.

Das Interview zeichnet die Transformation der Mutter nach: von einer Phase der emotionalen Erschütterung, Trauer und Angst hin zu einem aktiven, lernenden und suchenden Subjekt, das sich Wissen aneignet, Netzwerke erschließt und Handlungsräume eröffnet. Die Praxis steht hierbei im Mittelpunkt. Die Mutter organisiert Fördermaßnahmen, sucht geeignete Schulformen, koordiniert Unterstützungsstrukturen (u.a. durch einen langfristig konstanten Integrationshelfer) und verhandelt gesellschaftliche Teilhabe für ihren Sohn. Dabei wird deutlich, dass Bildung hier nicht primär durch Reflexion im engeren Sinne erfolgt, sondern durch das tätige und fürsorgliche Eingreifen in konkrete Lebensverhältnisse – eine performative Praxis, die zugleich emotionale und kognitive Verarbeitungsprozesse trägt.

In der Reflexion über das Interview wird deutlich, dass die Fremdheit nicht verschwindet, sondern bleibt – wie es Waldenfels beschreibt – als ein „Antwortverlangen“ des Anderen, das nie vollständig eingelöst werden kann. Auch nach vielen Jahren bleibt bei der Mutter eine grundlegende Ungewissheit über die Zukunft ihres Sohnes bestehen. Doch im Verlauf des Interviews zeigt sich eine Verschiebung der Perspektive: Die Fremdheit wird nicht mehr ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Teil einer existenziellen Aufgabe angenommen. In einem bemerkenswerten Schlussabschnitt deutet die Mutter ihr Handeln theologisch-existenziell um: Vielleicht sei es ihre Aufgabe, diesem Kind zur Seite zu stehen – eine Haltung, die sowohl Haltungskraft als auch Annahme des Nichtverstehbaren ausdrückt.

Die Analyse des Interviews macht sichtbar, wie sich Bildungsprozesse im Alltag von Eltern vollziehen – nicht als idealtypische Fortschrittsgeschichten, sondern als komplexe, oft widersprüchliche Bewegungen zwischen Verunsicherung, Widerstand, Sinnsuche und Engagement. Die anthropologischen Kategorien bieten dabei ein heuristisches Raster, um die Erfahrungen der Mutter als leiblich (Körper), sozial eingebunden (Soziales), räumlich und institutionell verortet (Raum, Kultur), subjektiv transformierend (Subjekt) und normativ verhandelt (Grenzen) zu beschreiben.

Die Folge ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich durch die Perspektive der anthropologischen Bildungsforschung Bildungsprozesse rekonstruieren lassen, die nicht in klassischen Bildungskontexten stattfinden, sondern im biographischen Umgang mit Krise, Sorge und dem Anderen als Fremden.

Transformatorische Bildung – Folge 162 „Zeitbeschleunigung im Profisport mit Rosa und Safranski“

Melani und ich unterhalten uns über ein Interview (FR434) mit einem Profi-Eishockeyspieler, dessen Lebenstraum zerplatzt und der sich ein neues Welt- und Selbstverhältnis aufbauen muss. Dabei beziehen wir uns auf den Soziologen Hartmunt Rosa und den Literaturwissenschafter und Philosophen Rüdiger Safranski. Also Literatur ist besonders relevant:

Rosa, Hartmut (2005) Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Rosa, Hartmut, (2006 ) Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung: Frankfurt am Main: Suhrkamp

Safranki, Rüdiger (2017): Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Fischer Verlag

Schmidt, Tim/Krebs, Moritz/Rader, Timur/Schamel, Liesa/Schulz, Birgit/Zirfas, Jörg (2025): Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung (i.E.)

Zentrales Zitat:

F: Also ja, also mit mir wurden noch zwei andere aussortiert [mh] und die erste Zeit war es vom Kopf her hart, aber beziehungsweise es war generell auch ein bisschen schwierig, weil ich auf einmal so viel Zeit hatte und ich gar nicht wusste, was ich mit dieser Zeit anfangen  soll, (.) weil ich halt, wie gerade eben erwähnt, immer sehr kurze Zeitfenster am Tag hatte, um  irgendwelche Sachen zu machen. [mh] Auf die eine Art und Weise war‘s schön mal nichts zu haben und keine Ahnung, mal den ganzen Tag Netflix zu gucken oder sonst was oder einfach mal zu chillen, (.) aber auf der anderen Seite, war es auch irgendwann langweilig, ich brauchte diese Routine wieder oder hatte wieder Lust auf diese Routine und dieses jeden Tag  (.) zu ackern. /lacht/ [mh] Joa, aber es gibt immer zwei Seiten von der Medaille, weil auf der einen Seite, hatten wir teilweise im Sommer sechs bis acht Wochen Training, also das auch teilweise zwei Mal am Tag und das war halt schon hart, also da hattest du nicht mehr den Sommer. Wir hatten im Sommer- wir hatten das ganze Jahr über Training außer einen Monat und in diesem einen Monat konnten wir in den Urlaub fahren. (.) Urlaub war zum Beispiel auch eine schwierige Sache, weil wir halt immer verpflichtet waren am Training teilzunehmen und an den Spielen teilzunehmen und unser Urlaub halt so geplant werden musste, dass es in diesem einem Monat [mh] vonstatten geht. Dementsprechend hattest du auch keinen wirklichen Sommer, weil im Sommer wurde halt außerhalb des Eises trainiert. (.) Mit Laufen und Krafttraining, das war immer das Schlimmste und dafür bin ich sehr dankbar, dass ich das nicht mehr machen muss, /lacht/ weil das war immer eine Quälerei. (.) Und das dann halt teilweise sechs bis acht Mal die Woche, das war dann schon hart. [mh] Genau, das ist zum Beispiel die eine Sache, die ich nicht vermisse, aber letztendlich wie gesagt, [mh] vor allen Dingen nach der Zeit, (.) kurz nach der Zeit nach dem in aussortiert wurde, (.) war es halt schon irgendwie schwierig einen Alltag zu finden, weil man halt so viel Zeit hatte und ichdamit gar nicht klar kam und gefühlt nichts gemacht habe und die Tage nicht rum gingen, weil  wie gesagt kein Alltag da war. (FR434, Z. 123-147)

 

Zusammenfassung der Podcast-Folge 162

Die 162. Folge des Podcasts Transformatorische Bildung beschäftigt sich mit der biografischen Erschütterung eines jungen Eishockeyspielers, dessen Lebenstraum, Profi zu werden, an der Schwelle zur Professionalisierung zerbricht. Im Mittelpunkt der Reflexion stehen Fragen nach Zeit, Veränderung und Bildung – analysiert im Licht der anthropologischen Bildungsforschung, insbesondere anhand der anthropologischen Kategorien, der Trias Emotion–Praxis–Theorie sowie dem Konzept der Performativität.


1. Zeit als Bildungsherausforderung

Wie ein roter Faden durchzieht das Thema Zeit die gesamte Episode. Es wird unterschieden zwischen:

  • Beschleunigter Weltzeit (nach Hartmut Rosa): Die Jugend des Sportlers ist strukturiert durch ein straffes Regiment von Schule, Training und Schlaf – ohne Eigenzeit, ohne Pausen, ohne Aneignung der Welt.

  • Eigenzeit (nach Safranski): Der Bruch eröffnet erstmals Zeiträume ohne Struktur, zunächst desorientierend, dann zunehmend produktiv.

  • Narrative Zeit (nach Ricoeur): Die Erzählung selbst wird zum Medium, das objektive und subjektive Zeitdimensionen vermittelt.


2. Bildung durch Krise: Emotion, Praxis, Theorie

Der Bildungsprozess verläuft entlang einer biografischen Erschütterung und kann durch die Trias Emotion – Praxis – Theorie beschrieben werden:

  • Emotion: Begeisterung für den Sport – Schock des Ausschlusses – Enttäuschung – Neugier – Freude am Neuen.

  • Praxis: Disziplin im Training – Kontrollverlust – Neuanfang mit Alltagspraktiken (Freundschaften, Freizeitgestaltung, Reflexion).

  • Theorie/Reflexion: Retrospektive Einordnung der Sportzeit als Ressource – Aneignung von Disziplin, Selbstkenntnis, Akzeptanz.


3. Anthropologische Kategorien im Interview

Die Moderator:innen greifen systematisch die sieben anthropologischen Kategorien auf, die für die Analyse biografischer Transformationen leitend sind:

a) Körper

Der Körper des jungen Mannes ist Ort von Disziplin und Überforderung. Die körperliche Belastung im Training, besonders im Sommer, wird rückblickend als „Quälerei“ beschrieben. Erst nach dem Bruch tritt ein neues Verhältnis zum Körper ein: Ruhe, Entspannung, Regeneration werden möglich.

b) Soziales

Der Verein fungiert als „Familie“, die soziale Identität stiftet. Nach dem Ausschluss wird diese soziale Ordnung obsolet. In der Krise gewinnt der Interviewte neue soziale Beziehungen – Freunde, Partys, Gespräche – und öffnet sich für neue soziale Resonanzräume.

c) Raum

Der biografische Raum ist zunächst eingeengt: Schule – Sporthalle – Bett. Erst nach dem Scheitern öffnet sich der Raum: neue Orte werden erkundet, Freizeit wird als räumliche Möglichkeit neu erfahren.

d) Zeit

Die zentrale Kategorie: Der junge Mann erfährt eine Transformation vom Leben in der Weltzeit zur Gestaltung von Eigenzeit. Die Leere nach dem Karriereende wird zur Schwelle eines neuen Zeitbewusstseins.

e) Kultur

Die Kultur des Leistungssports prägt das frühe Selbstbild: Erfolg, Disziplin, Effizienz. Nach dem Bruch entsteht ein kultureller Wandel: Es wird möglich, Genuss, Muße und Kontemplation in das Leben zu integrieren.

f) Subjekt

Der Interviewte wird vom Sportler-Subjekt – diszipliniert, funktional, zielgerichtet – zu einem reflektierenden, freien, emotional offenen Subjekt, das seine Geschichte erzählt, sich selbst als Akteur erkennt und Verantwortung übernimmt.

g) Grenzen

Zentrale Grenzerfahrung ist das Ausscheiden aus dem Kader – eine biografische „Grenze“, die zur Neuverhandlung des Selbst führt. Weitere Grenzen zeigen sich in körperlicher Erschöpfung, sozialer Isolation und dem Verlust von Orientierung, die durch neue Übergänge (Freundschaft, Reflexion) überschritten werden.


4. Performativität: Zeit verkörpern, Bildung erzählen

Im Schlussteil wird ein neuer Aspekt zentral: die performative Dimension des Interviews. Es wird deutlich, dass Bildung nicht nur durch Inhalt geschieht, sondern durch die Art der Erzählung selbst. Die Sprecher:innen reflektieren, dass Resonanz – im Sinne Rosas – nicht nur thematisiert, sondern im Gespräch selbst performativ hergestellt wird.

Zentrale Aspekte performativer Bildung in diesem Kontext:

  • Erzählung als Transformation: Der Interviewte vollzieht im Sprechen eine Form der Selbstbildung, indem er sich seine Geschichte rückblickend aneignet.

  • Zeitlichkeit als Form: Die zeitlichen Verschiebungen – Stillstand, Dehnung, Verdichtung – werden nicht nur beschrieben, sondern verkörpert.

  • Affekt und Sprache: In der Art der Rede (Metaphern, Betonung, Zögern) manifestieren sich nicht nur Gedanken, sondern Haltungen und Weltverhältnisse.

  • Resonanz im Gespräch: Die Resonanz zwischen Interviewten und Zuhörenden, zwischen Sprecher:in und Moderator:in, zwischen Text und Theorie – sie geschieht zwischen den Akteur:innen, nicht in ihnen. Das Gespräch selbst wird zum Bildungsakt.


5. Fazit: Zeit als Bildungsfigur

Die Folge illustriert exemplarisch, wie Zeit zur zentralen Bildungsfigur wird: Zeit als Mangel, Zeit als Überfluss, Zeit als Aneignung. Die biografische Transformation des jungen Mannes ist nicht linear, sondern rhythmisch: geprägt von Brüchen, Umwegen und Resonanzmomenten.

Transformatorische Bildung – Folge 161 „Auf der Suche nach der eigenen Geschechtsidentität“

Laura und ich unterhalten uns über ein narratives Interview (FR449), indem Lea* ihre Transition vom Jungen zur Frau beschreibt. Wir gehen auf die Theorie von Judith Butler ein und besprechen dann die zentralen Aspekte der anthropologischen Bildungsforschung von Transformatorischer Bildung, der Trias von Emotion, Praxis und Theorie, den anthropologischen Kategorien Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen und der Performativität.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Laura zur Interviewanalyse FR449 (GPT)

In dieser Folge des Podcasts Transformatorische Bildung sprechen Tim und Laura über das narrative Interview FR449, in dem die junge Frau Lea* ihre Transition vom als Junge geborenen Kind zur Frau reflektiert. Das Gespräch entfaltet sich entlang zentraler theoretischer Linien – insbesondere Judith Butlers Theorie der Performativität und Anrufung sowie der anthropologischen Bildungsforschung, die auf Konzepte transformatorischer Bildung, rhetorische Figuren, die Trias Emotion–Praxis–Theorie und anthropologische Kategorien zurückgreift.

Einführung in das Interview und thematische Rahmung

Laura berichtet, wie ihre Gruppe sich für das Interview mit Lea* entschied – einer jungen Frau, die sich im Alter von etwa 19 Jahren als trans erkannt und geoutet hat. Die Wahl fiel auf diese biografische Erzählung, da sie einerseits eine starke Transformationsgeschichte darstellt und andererseits gesellschaftlich hochrelevant ist. Im Zentrum steht Leas Selbsterkenntnis, dass ihr bei der Geburt zugewiesenes männliches Geschlecht nicht mit ihrem erlebten Selbst übereinstimmt. Im Interview schildert Lea* ihre Kindheit, erste Irritationen während der Pubertät, das Aufkommen einer tiefen Verstimmung in der Corona-Zeit und schließlich das konversionsartige Moment während eines Urlaubs in Italien, in dem ihr klar wird, dass sie trans ist.

Theoretischer Fokus: Judith Butler

Laura betont zwei zentrale Begriffe bei Judith Butler: Anrufung (interpellation) und Performativität. Die Anrufung durch soziale Instanzen – ob negativ durch Fremde oder positiv durch Freunde und Familie – formt die Identität der interviewten Person maßgeblich. Die Theorie der Performativität zeigt sich etwa in Leas frühzeitiger, aktive Festlegung auf Pronomen („she/her“) und in ihrem Verhalten (Kleidung, Körpersprache), das ihre Geschlechtsidentität performativ herstellt.

Tim ergänzt diese Aspekte durch eine prägnante Darstellung der Sprechakttheorie (Austin) und erläutert, wie Butler diese erweitert, indem sie zeigt, dass Geschlecht durch performative Akte – wie die Geburtsausrufung „Es ist ein Mädchen!“ – diskursiv erzeugt wird. Eine kritische Diskussion entsteht über Butlers Infragestellung des biologischen Geschlechts (Sex). Während Laura hier gewisse Verständnisschwierigkeiten äußert, wird im Gespräch deutlich, dass Butler die Kategorie „Sex“ nicht leugnet, sondern deren kulturelle Konstruktion betont.

Transformatorische Bildung

Im weiteren Verlauf erläutert Laura, wie sich die Transition von Lea* im Sinne der transformatorischen Bildung (Koller/Kokemohr) verstehen lässt. Leas Krise während der Pandemie – die depressive Verstimmung und Identitätsverunsicherung – wird als Bruch im bisherigen Welt- und Selbstverhältnis interpretiert. Die metaphorische Wendung „wie ein Phönix aus der Asche“ beschreibt den Übergang in ein neues Verhältnis zu sich selbst. Diese bildhafte Sprache ist Ausdruck einer gelungenen biografischen Transformation.

Trias: Emotion – Praxis – Theorie

Die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie, wie sie in der anthropologischen Bildungsforschung entwickelt wurde, strukturiert die Analyse des Interviews:

  • Emotion: Leas frühes Unwohlsein, depressive Symptome, Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.

  • Praxis: Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, das Coming-out, die Inanspruchnahme von Hormontherapie.

  • Theorie: Die bewusste Einordnung des Erlebten unter der Kategorie Transidentität.

Diese Dreigliederung erlaubt eine dichte Beschreibung des Bildungsprozesses auf verschiedenen Ebenen.

Anthropologische Kategorien

Laura benennt die sieben Kategorien nach Wulf/Zirfas (2014) „Handbuch der pädagogischen Anthropologie“: Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Soziales und Grenzen. Sie zeigt auf, wie Leas Erzählung durch diese Dimensionen strukturiert ist:

  • Körper: Der zentrale Ort der Entfremdung und später der Angleichung.

  • Raum: Öffentliche Orte wie Toiletten oder Züge, in denen sie Diskriminierung erlebt.

  • Zeit: Die Corona-Pandemie als transformatorischer Möglichkeitsraum.

  • Subjekt: Die Selbstbeschreibung und performative Festlegung als Frau.

  • Soziales: Die stark unterstützende Rolle von Familie, Freund:innen und Universität.

  • Kultur: Die gesellschaftliche Reaktion auf Transidentität und deren Wandel.

  • Grenzen: Die administrativen Hürden bei der Änderung von Ausweisdokumenten sowie symbolische Grenzüberschreitungen in Geschlechterfragen.

Schlussbetrachtung

Am Ende betont Laura nochmals den Appell von Lea* an die Gesellschaft: mehr Akzeptanz, niedrigere institutionelle Hürden und ein inklusiverer Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt. Das Interview wird als Beispiel eines gelungenen Bildungsprozesses gelesen, in dem eine Person über Sprache, soziale Anerkennung und individuelle Praxis ein neues Welt- und Selbstverhältnis formt. Die performative Kraft der Erzählung selbst wird als Teil dieses Prozesses verstanden.


Transformatorische Bildung – Folge 160 „Und das hat mich total angesprochen und die waren auch alles Alkoholiker.“ Identifikation in AA

Anhand eines Interviews von Fred* über seine Alkoholsucht (FR362) diskutieren Lorenz und ich, inwiefern Identifikationen und Symbolisierungen im Sinne von Lacan zu einen Transformationsprozess auslösen können. Dabei beziehen wir uns auch auf die anthropologischen Kategorien.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Lorenz über das Interview FR362 („Fred“) GPT

In dieser Episode des Podcasts Transformatorische Bildung analysieren Tim und Lorenz gemeinsam das narrative Interview FR362, in dem Fred* über seine langjährige Erfahrung mit Alkoholabhängigkeit berichtet. Das Gespräch thematisiert die strukturelle Dynamik von Suchtbiografien, deren symbolische Rahmung durch Sprache sowie die Rolle von Identifikationsprozessen und subjektiven Umbrüchen im Kontext von Transformation und Bildung. Dabei werden Konzepte der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans mit der anthropologischen Bildungsforschung verknüpft.

Einführung und theoretische Rahmung

Zu Beginn skizzieren Tim und Lorenz die Relevanz des Interviews im Lichte der transformatorischen Bildungstheorie nach Koller und Kokemohr. Diese Theorie geht davon aus, dass Bildungsprozesse durch krisenhafte Fremdheitserfahrungen ausgelöst werden, die eine tiefgreifende Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses erforderlich machen. In Freds Fall ist die Alkoholabhängigkeit sowohl Symptom als auch Ausdruck einer existenziellen Krise. Die Analyse orientiert sich zudem an den drei Registern der Lacanschen Psychoanalyse – Imaginäres, Symbolisches und Reales – sowie an den anthropologischen Kategorien (Zirfas et al.).

Lebensweg und Krisenerfahrung

Fred wächst in der DDR auf, in einem von emotionaler Distanziertheit, Gewalt und Lügen geprägten Elternhaus. Schon früh zeigt sich eine Suchtstruktur: Fernsehen, Essen, später Cannabis und schließlich Alkohol. In der Grundschule erfährt Fred Mobbing, was in seiner Jugendzeit in die Identifikation mit einer „coolen Kiffergruppe“ mündet – eine erste imaginäre Selbstinszenierung, wie Tim herausarbeitet. Diese Identifikationslinie verstärkt sich, als Fred in Beziehungen scheitert, die Vaterschaft nicht bewältigen kann und zunehmend in selbstzerstörerische Alkoholexzesse verfällt.

Der entscheidende Bruch tritt ein, als Fred sich in einem „Loch“ – einer kleinen Wohnung in einer fremden Stadt – vollständig sozial isoliert. Die Erzählung dieses Tiefpunkts markiert eine Grenze, an der das bisherige Selbst- und Weltverhältnis kollabiert. Die Beschreibung des Körpers („der Alkohol macht mich kaputter als das Kiffen – im Kopf und im Leben“) ist Ausdruck eines somatisch und psychisch erfahrenen Zerfalls.

Lacan: Imaginäres, Symbolisches, Reales

Das Gespräch analysiert Freds Geschichte entlang der Lacanschen Trias:

  • Imaginär: Die Identifikation mit dem Bild des coolen Kiffers, später auch mit dem Bild des trinkenden Außenseiters. Der Blick der anderen, z. B. beim Mobbing, wirkt als Form negativer Anrufung (vgl. Butler), die internalisiert wird und zur Selbstdegradierung führt. In Kneipen findet Fred eine soziale Szene, in der seine Sucht normalisiert wird – das Bild des Trinkenden wird stabilisiert und reproduziert.

  • Symbolisch: Der Wendepunkt ist geprägt durch eine sprachlich vermittelte Erfahrung: In den Meetings der Anonymen Alkoholiker hört Fred zum ersten Mal eine neue symbolische Ordnung. Der Satz „Alkoholiker bleiben Alkoholiker – das kann man nicht kontrollieren“ wird für ihn zu einer zentralen Einsicht, die ihm eine neue Form der Selbstbeschreibung ermöglicht. Er übernimmt das symbolische System der Anonymen Alkoholiker – inklusive ihrer Sprache und Narrative – und findet dadurch eine neue, sinnstiftende Positionierung.

  • Reales: Das Reale manifestiert sich als dasjenige, was sich der Symbolisierung entzieht – das traumatische, körperlich erfahrene Leid, die unkontrollierbare Macht des Suchtverlangens. In Freds Erzählung zeigt sich das Reale etwa in den wiederholten Rückfällen, im Gefühl „krank zu sein“ und in der völligen Erschöpfung durch den inneren Kampf. Dieses Reale wird durch die symbolische Ordnung der AA teilweise integriert, aber nie völlig aufgelöst.

Anthropologische Kategorien

Im Verlauf des Gesprächs werden die sieben anthropologischen Kategorien von Zürfers in die Analyse einbezogen:

  • Körper: Der Alkohol zerstört den Körper und entzieht Fred zunehmend die Kontrolle über sich selbst. Diese Erfahrung bildet eine zentrale Voraussetzung für die Transformation.

  • Raum: Die Kneipe als öffentlicher Raum der kollektiven Sucht und das „Zimmerloch“ als Ort der Isolation stehen exemplarisch für das räumlich eingebettete Selbstverhältnis.

  • Zeit: Die Beschreibung einer „Pink Cloud“ – der euphorischen ersten Phase der Abstinenz – verweist auf eine veränderte Zeitwahrnehmung. Der Übergang von der chronischen Wiederholung (Rückfälle) hin zu einer neuen Zeitstruktur der Hoffnung ist Teil des Bildungsprozesses.

  • Soziales: Freds soziale Beziehungen oszillieren zwischen toxischer Zugehörigkeit (Trinkgemeinschaft) und neuer sozialer Integration (AA). Die Wandlung im sozialen Gefüge ist Teil seiner Bildungsbewegung.

  • Kultur: Die Kultur der Anonymen Alkoholiker – mit eigenen Regeln, Ritualen und Sprachnormen – bietet Fred eine neue kulturelle Matrix zur Deutung seiner Biografie.

  • Subjekt: Durch die narrative Struktur des Interviews konstituiert sich Fred als Subjekt, das sich erinnernd, deutend und reflektierend zu sich selbst verhält. Das Subjekt wird hier nicht als stabile Entität verstanden, sondern als Resultat eines gespaltenen, suchenden und sprechenden Prozesses – in Übereinstimmung mit der Lacanschen Subjekttheorie.

  • Grenzen: Die Analyse zeigt deutlich, wie Fred in seinem Leben an psychische, soziale und körperliche Grenzen stößt. Die Grenze markiert zugleich den Punkt, an dem Transformation möglich wird.

Schlussbemerkung

Das Gespräch zwischen Tim und Lorenz demonstriert eindrucksvoll, wie eine psychoanalytisch informierte Lesart narrativer Interviews zur Rekonstruktion tiefgreifender Bildungsprozesse beitragen kann. Die Verknüpfung von Lacans Topologie des Subjekts mit der Theorie transformatorischer Bildung und den anthropologischen Kategorien erlaubt eine vielschichtige Analyse der Erzählung Freds. Sie macht sichtbar, wie sich im symbolischen Aneignen, im emotionalen Durchleben und im praktischen Wandel ein neues Verhältnis zur Welt und zum Selbst ausbilden kann – getragen von Sprache, Begegnung und der Arbeit am eigenen Leben.

Transformatorische Bildung – Folge 159 „Gerettete Lebensmittel: Die Geschichte einer Juristin zur Heldin“

In dieser Folge unterhalten sich Lara und ich über ein Interview (FR420), indem die Erzählerin über die Gründung eines Ladens für gerettete Leben berichtet. Eine Veränderung ihres Welt- und Selbstverhältnisses findet während ihrer Tätigkeit in Nepal statt. Wir interpretieren das Interview mit der Theorie transformatorischer Bildung nach Kokemohr/Koller und der Pädagogischen Anthropologie nach Wulf und Zirfas. Hier nutzen wir wieder die Trias von Emotion, Praxis und Theorie und und anthropologischen Kategorien Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen Zum Schluss diskutieren wir die Performativität und die Gestaltung des Imaginären.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Lara über das Interview FR420 („Gerettete Lebensmittel“) – Folge 159 (GPT)

In dieser Folge des Podcasts Transformatorische Bildung sprechen Tim und Lara über das narrative Interview FR420 mit einer Frau, die von ihrem biografischen Wandel von einer Juristin zur Gründerin eines Ladens für gerettete Lebensmittel berichtet. Der Transformationsprozess der Erzählerin wird entlang der Theorie transformatorischer Bildung (Kokemohr, Koller) und der pädagogischen Anthropologie (Wulf, Zirfas) analysiert, wobei die Konzepte Fremdheitserfahrung, Trias Emotion–Praxis–Theorie, anthropologische Kategorien und Performativität zentrale Orientierungspunkte bieten.

1. Theoretischer Rahmen und Analysemethodik

Tim und Lara betonen zu Beginn die methodische Perspektive ihres Gesprächs: Die Analyse orientiert sich am Konzept der transformatorischen Bildung, in der subjektive Wandlungsprozesse durch Irritationen, Brüche und Fremdheitserfahrungen in Gang gesetzt werden. Diese werden sprachlich strukturiert durch rhetorische Figuren sowie kulturell gerahmt durch anthropologische Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt, Grenzen). Die Perspektive wird durch Waldenfels’ Theorie des Fremden vertieft und mit der Idee der Performativität und des Imaginären (u. a. in Anlehnung an Butler und Deleuze) verbunden.

2. Biografische Struktur: Drei Phasen der Transformation

Laras Analyse gliedert die Erzählung der Interviewten in drei zeitlich strukturierte Phasen: Vor dem Aufenthalt in Nepal, die Zeit in Nepal und die Zeit danach, in der die Gründung des Ladens für gerettete Lebensmittel erfolgt.

Phase 1: Vor Nepal – Körperliche Prägung und erste Zugänge zur Natur

Die Erzählerin berichtet von ihrer Kindheit, in der sie auf einem Gemüsefeld mitarbeiten durfte. Diese körperlich-praktische Erfahrung stellt eine erste, implizite Form von Weltverhältnis dar. Es wird als frühe Grundierung eines ökologischen Bewusstseins gedeutet, ohne dass in dieser Phase bereits ein reflektiertes Verständnis für Nachhaltigkeit vorliegt. Die anthropologischen Kategorien „Körper“, „Raum“ und „Soziales“ sind hier zentral: Elternhaus, Garten, Naturkontakt. Eine „romantische“ Vorstellung von Gerechtigkeit leitet sie schließlich zum Jurastudium, wobei bereits hier emotionale und theoretische Motive sichtbar werden.

Phase 2: Nepal – Erfahrung radikaler Fremdheit und Weltbruch

Die prägende Transformation erfolgt während ihres Aufenthalts in Nepal im Rahmen eines Masterstudiums in Human Rights. Dort arbeitet sie für eine NGO, die sich für indigene Rechte einsetzt. Besonders eindrucksvoll wird eine Szene beschrieben, in der ein Wasserlieferant nicht liefern kann, weil gleichzeitig die Elektrizität ausfällt – eine alltägliche Situation vor Ort, für die Erzählerin jedoch unbegreiflich. Ihre Reaktion – „Das ging nicht in meinen Kopf rein“ – wird als Ausdruck einer tiefgreifenden Fremdheitserfahrung gedeutet.

Diese Passage lässt sich entlang mehrerer Achsen analysieren:

  • Trias Emotion – Praxis – Theorie:

    • Emotionale Irritation über fehlende Organisation und Kontrolle,

    • praktische Ohnmacht angesichts der Zustände,

    • theoretische Reflexion über globale Ungleichheiten.

  • Anthropologische Kategorien:

    • Körper (Durst, Hygiene, Nahrung),

    • Raum (Stadtviertel, Wasserlogistik),

    • Zeit (Stundenpläne für Elektrizität),

    • Subjekt (Konfrontation mit der eigenen westlichen Perspektive),

    • Grenzen (Ohnmacht, strukturelle Begrenztheit),

    • Kultur (Gastfreundschaft, Akzeptanz von Mangel),

    • Soziales (Beziehungen zu Nachbar:innen und Kolleg:innen).

Diese Erfahrung wird als Wendepunkt gelesen, an dem sich das Selbstverhältnis neu formiert. Die Wahrnehmung des Wassers als existenzielles Gut wird in einer metonymischen Figur greifbar: Wasser als konkrete Notwendigkeit und als symbolisches Element des Imaginären.

Phase 3: Rückkehr und Handlung – Gründung des Ladens

Nach der Rückkehr verändert sich das Handeln der Erzählerin radikal. Sie distanziert sich vom juristischen Beruf, beginnt mit dem „Containern“ (Lebensmittelrettung aus Müllcontainern) und gründet schließlich einen eigenen Laden, in dem Lebensmittel nach einem „Zahl-was-du-kannst“-Prinzip weitergegeben werden. Dieses Handeln wird als Performativität des Imaginären gedeutet: Die Erzählerin erschafft durch symbolisches Handeln einen neuen sozialen Raum, in dem nachhaltiges Wirtschaften, Gerechtigkeit und Ethik konkret erfahrbar werden.

Die Grenzüberschreitung, die mit dem Containern verbunden ist (illegalisierte Praxis), verdeutlicht zudem eine Neuausrichtung des Subjektverhältnisses: Die Erzählerin handelt entgegen normativen Erwartungen und verleiht ihrer Überzeugung durch öffentliches, praktisches Handeln Ausdruck. Es ist nicht nur die Reflexion, sondern die Verkörperung eines anderen Weltbezugs, der hier zur Sprache kommt.

3. Performativität und Imaginäres

Zum Abschluss des Gesprächs diskutieren Tim und Lara, inwiefern die Transformation der Erzählerin auch eine Gestaltung des Imaginären darstellt. Die Interviewte schafft neue symbolische Ordnungen, indem sie konkrete Praktiken (z. B. den Laden) etabliert, die jenseits des dominanten Wirtschaftssystems stehen. Dabei wird sichtbar, wie performative Handlungen neue Bedeutungsräume erschließen und wie Bildung nicht nur in der Reflexion, sondern in der leiblich-symbolischen Weltgestaltung vollzogen wird.

 

Das Interview steht thematisch im Zusammenhang mit den vorherigen Podcast-Folgen.

Folge 157: Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte“

Folge 158:„Die Geschichte einer Aussteigerin: Leben in den Bäumen“

Transformatorische Bildung – Folge 158 „Die Geschichte einer Aussteigerin: Leben in den Bäumen“

Im Anschluss an die letzte Episode geht es wieder um die Geschichte einer Aussteigerin. Linnea und ich diskutieren, wie sich das Leben in den Baumhäusern im Hambacher Forst gestaltet (FR422). Wir benutzen die Transformatorische Bildung nach Kokemohr und  Koller sowie die Pädagogische Anthropologie nach Wulf und Zirfas. Dabei hat sich in der Analyse der anthropologischen Kategorien herausgestellt, dass sich in diesem Interview die Erfahrungen entweder in der Kategorie des Körpers und des Raumes oder im Sozialen bündelt. Zudem diskutieren wir den Prozess vor der Trias: Emotion, Praxis und Theorie. Zum Schluss stellen wir kurze Überlegungen dazu an, wie sich das Performative und Imaginäre in den Interviews zeigt und wie sich die Erzählung oder Plot in einem Film gestalten lassen würde.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Linnea über das Interview FR422 („Leben im Hambacher Forst“) – Folge 158 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Linnea das narrative Interview FR422 mit einer Frau, die über ihr Leben als Aktivistin in den Baumhäusern des Hambacher Forsts berichtet. Die Erzählung wird aus der Perspektive transformatorischer Bildung (Kokemohr, Koller) sowie der pädagogischen Anthropologie (Wulf, Zirfas) gedeutet. Die Folge schließt an frühere Episoden über biografische Ausstiege aus etablierten gesellschaftlichen Ordnungen an und thematisiert erneut den Zusammenhang von Umweltengagement, Körpererfahrung, Raumaneignung und Weltdeutung.

1. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektive

Im Zentrum steht die Frage, wie Bildung im Sinne einer Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses in der biografischen Erzählung sichtbar wird. Die Analyse orientiert sich am Konzept der Fremdheitserfahrung (Waldenfels), der Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas et al.) sowie an den anthropologischen Kategorien (Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt, Grenzen).

Ein besonderer Fokus liegt auf dem Vorgang vor der Trias – also jenen unreflektierten, leiblich-emotionalen Bewegungen, die Bildungsprozesse erst in Gang setzen, aber (noch) nicht in bewusste Praktiken oder Theorien überführt sind. Zudem werden abschließend Aspekte der Performativität und Imaginierung alternativer Lebensformen besprochen.

2. Biografischer Hintergrund: Leben im Widerstand

Die Interviewpartnerin erzählt von ihrem entschiedenen Ausstieg aus dem bisherigen bürgerlichen Leben und ihrem Einzug in die Baumhaus-Siedlungen des Hambacher Forsts. Die Entscheidung ist nicht bloß rational oder politisch motiviert, sondern zutiefst leiblich und emotional verwurzelt. Der Wald wird als Raum des Widerstands und der Lebendigkeit beschrieben, das Baumhaus als Ort eines neuen, direkten Weltbezugs – jenseits konsumistischer Routinen.

3. Anthropologische Kategorien: Bündelung von Körper–Raum und Sozialem

In der Analyse zeigt sich, dass sich die Erfahrungen der Erzählerin in zwei zentralen Bündelungskategorien kristallisieren:

  • Körper und Raum: Das Leben in der Baumkrone erfordert körperliche Präsenz, Mut, Verletzlichkeit. Die körperliche Erfahrung des Waldes – Wind, Kälte, Höhe – verbindet sich mit einem neuen Raumverhältnis: Der Wald wird nicht mehr als Naturkulisse erlebt, sondern als erlebter Widerstandsort. Die Bäume sind nicht nur Umgebung, sondern Teil einer symbiotischen Beziehung.

  • Soziales: Die interviewte Person erfährt im Kollektiv der Waldbesetzer:innen ein neues soziales Miteinander – geprägt von Solidarität, Konflikten, geteilten Utopien. Gemeinschaft wird nicht vorausgesetzt, sondern tagtäglich neu ausgehandelt. Diese soziale Praxis steht im Kontrast zur funktionalen Vereinzelung der urbanen Gesellschaft.

Die übrigen Kategorien (z. B. Zeit, Kultur, Grenzen, Subjekt) erscheinen weniger als eigenständige Achsen, sondern sind in den beiden dominanten Dimensionen mitenthalten – z. B. als geteilte temporale Rhythmen oder kulturelle Praktiken des Widerstands.

4. Bewegung zur Trias: Emotion, Praxis, Theorie

Die Analyse legt besonderen Wert auf das, was vor der Trias liegt: Die unbestimmten Impulse, Affekte, Unruhen, die das Bedürfnis nach Veränderung wecken, aber noch nicht sprachlich oder theoretisch greifbar sind. Die Erzählerin beschreibt Momente des „Nicht-mehr-Könnens“ und des „Sich-Rufen-Lassens“, die sich erst im Vollzug des Ausstiegs konkretisieren.

  • Emotion: Erschöpfung und Entfremdung im alten Leben, Faszination und Lebendigkeit im Forst.

  • Praxis: Aufbau der Baumhäuser, kollektive Organisation, direkte Aktion.

  • Theorie: Reflexion über Eigentum, Zerstörung, Nachhaltigkeit, Recht und Gerechtigkeit – oft erst im Nachhinein formuliert.

Diese Bewegung von vordiskursiven Affekten hin zu symbolischer Artikulation ist zentral für den Bildungsbegriff, wie er im Anschluss an Kokemohr verstanden wird.

5. Performativität und Imaginäres

Abschließend diskutieren Tim und Linnea, wie das Leben im Hambacher Forst auch als performative Praxis verstanden werden kann: Die Lebensform selbst ist ein symbolischer Akt, eine Handlung, die gesellschaftliche Ordnungen infrage stellt. Sie erschafft einen alternativen Raum – nicht nur physisch, sondern auch im Imaginären. Der Wald wird so zum Ort der Utopie, zur lebendigen Erzählung eines anderen Lebens.

Die Erzählerin erscheint als Figur einer Heldin, deren Geschichte das Potenzial hat, filmisch erzählt zu werden. Die Narration trägt Züge einer dramatischen Entwicklung: Krise, Aufbruch, Widerstand, Gemeinschaft, Hoffnung. In dieser Struktur spiegelt sich nicht nur ein individuelles Bildungsereignis, sondern auch eine kollektive Imaginationsleistung.

 

Transformatorische Bildung – Folge 157 „Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte“

Carina, Ben und ich unterhalten uns über das narrative Interview mit Anna* (FR413). Sie beschreibt ihren Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte, einem mongolischen Zelt. Vergleich: Wikipedia zur Jurte.
Zu Anfang besprechen wir drei theoretische Herangehensweise an das empirische Material: die transformatorische Bildung nach Koller mit der Analyse rhetorischer Figuren. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas. Und zum Schluss die anthropologischen Kategorien von Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen.
Wir gehen in den darauffolgenden Analyse einzelner Textteile vom Diachronen zum Synchronen vor und besprechen den Verlauf des Interviews mit der Transformationstheorie und der Trias. Als theoretische Referenzen verwenden wir die Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels und das Register des Imaginären und den Prozess der Identifikation nach Lacan. An manchen Stellen zeigen sich auch Anrufungen als “zu junge Mutter” im Sinne von Butlers. Nach dem Durchgang der einzelnen Sequenzen aus dem Interview versuchen wir, die Verlaufsform des Interviews zu bestimmen. Am Ende der Analyse sammeln wir die anthropologischen Kategorien ein, die sich im Aspekt des Raumes bündeln und alle Kategorien verknüpfen. Zum Schluss gehen wir die Performativität der Erzählung in Bezug auf das Buch Erzählende Affen durch und versuchen zu beschreiben, welche Gattung das Interview als Buch oder Film figuriert. Eine Idee war sich zu fragen, welche Ähnlichkeiten und unterschiede die Narration zum klassischen Bildungsroman hätte, zum Beispiel zu Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Carina und Ben über das Interview FR413 – Folge 157 (GPT)

In dieser Folge analysieren Tim, Carina und Ben das narrative Interview FR413 mit Anna*, die von ihrem biografischen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen erzählt. Im Zentrum steht ihre Entscheidung, aus einem als beengend empfundenen bürgerlichen Leben auszubrechen und ein Leben in einer Jurte zu beginnen – einem mobilen, traditionellen Zelt aus der mongolischen Nomadenkultur. Die Erzählung wird aus drei ineinandergreifenden Perspektiven interpretiert: Transformatorische Bildung nach Koller, Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), sowie den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas. Ergänzt wird die Analyse durch die Phänomenologie des Fremden (Waldenfels), Butlers Theorie der Anrufung und Lacans Konzept der Identifikation.


1. Theoretische Rahmung und Methodik

Tim führt zu Beginn des Gesprächs in die drei zentralen methodologischen Ebenen ein:

  • Transformatorische Bildung als Veränderung grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses, ausgelöst durch Fremdheitserfahrungen, sprachlich greifbar in Metaphern, Antithesen und symbolischen Brüchen.

  • Trias Emotion – Praxis – Theorie, die den Bildungsprozess auf leiblich-emotionaler, handelnder und reflexiver Ebene strukturiert.

  • Anthropologische Kategorien wie Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen, anhand derer Bildungsprozesse in ihrer leiblich-symbolischen und sozialen Verankerung analysiert werden können.

Diese Trias bildet den methodischen Leitfaden für die diachrone Analyse einzelner Sequenzen aus dem Interview.


2. Der „Käfig der Normalität“ – Metaphorische Figuration und erste Fremdheitserfahrung

Zu Beginn schildert Anna ihre Kindheit als „behütet“, jedoch geprägt von Langeweile, innerer Leere und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. In der Jugend wächst der Wunsch, „alles anders“ zu machen als ihre Eltern. Der zentrale Ausdruck dieser Phase ist die Metapher des „Käfigs“, der sowohl als rhetorische Figur als auch als anthropologische Kategorie (Raum, Körper, Grenze) interpretiert wird.

Die Antithese „Käfig – Freiheit“ markiert die Spannung zwischen altem und ersehntem Weltverhältnis. Diese metaphorische Opposition wird zum Ausgangspunkt eines transformatorischen Begehrens, das sowohl emotionale Antriebskraft als auch imaginäre Zukunftsprojektion enthält.


3. Fremdheitserfahrung und Identifikation (Waldenfels / Lacan)

Eine prägende Sequenz der Transformation zeigt sich in der Begegnung mit einem Partner, der ein alternatives Lebensmodell verkörpert: Leben im Wald, Selbstbau eines Hauses, Verzicht auf fließendes Wasser und Heizung. Anna beschreibt diese Lebensweise als „total fremd“ und zugleich faszinierend. Diese Ambivalenz des Fremden (Waldenfels) – als beängstigend und zugleich anziehend – wird als Initiationserfahrung gelesen.

Lacan’s Theorie der Identifikation spielt hier eine zentrale Rolle: Der Partner fungiert als Symbolfigur, mit der sich Anna identifiziert. Die Entscheidung, mit ihm zu leben, markiert einen performativen Akt der Aneignung eines neuen Weltverhältnisses. Dies ist kein rationaler Entschluss, sondern ein tiefgreifender Prozess symbolischer Orientierung und Subjektwerdung.


4. Emotion – Praxis – Theorie (Trias)

Der Bildungsprozess entfaltet sich entlang der drei Dimensionen:

  • Emotion: Gefühle von Enge, Neugier, Faszination, Angst und Erregung.

  • Praxis: Erste konkrete Veränderungen im Lebensstil, etwa das Leben in der Jurte, Holzheizen, Rückzug aus der Konsumgesellschaft.

  • Theorie: Reflexionen über das Schulsystem, Kritik an gesellschaftlichen Normen, Entwicklung alternativer Lebenskonzepte.

Besonders deutlich wird die Verschiebung vom Emotionalen zur Praxis durch die progressive Aneignung der Umwelt: vom symbolischen Käfig zur konkreten Jurte als Ort eines selbstgewählten, freien Lebens.


5. Anthropologische Kategorien: Raum als Verknüpfungsachse

Im synchronen Rückblick auf das gesamte Interview zeigt sich eine Bündelung der anthropologischen Kategorien im Aspekt des Raumes:

  • Raum: Der Wechsel vom normierten Wohnraum zum offenen Lebensraum der Jurte ist Ausdruck eines veränderten Raumverhältnisses.

  • Körper: Körperliche Erfahrungen im Wald (Kälte, Feuerholz, Selbstversorgung) prägen das neue Selbstverhältnis.

  • Soziales: Der Kontakt zu Gleichgesinnten in alternativen Lebensgemeinschaften ersetzt die Normstrukturen des familiären Milieus.

  • Zeit: Der Alltag folgt neuen Rhythmen – naturnah, nicht durch Uhrzeit oder Wochenstruktur determiniert.

  • Kultur: Die Interviewpartnerin eignet sich ein anderes kulturelles Skript an – abseits kapitalistischer Lebensentwürfe.

  • Subjekt: Der Wandel führt zu einem neuen Selbstverständnis, das sich narrativ in der Figur der Aussteigerin artikuliert.

  • Grenzen: Die Grenzziehung gegenüber der „alten Welt“ ist zentral – symbolisch, räumlich, sozial und existenziell.


6. Performativität und Imaginäres – Bildungsroman und Erzählfiguren

Am Ende des Gesprächs diskutieren die drei, inwiefern das Interview als Narration gestaltet ist. Der Bezug auf Die erzählenden Affen (Samira El Ouassil, Friedemann Karig) und der Vergleich mit dem Bildungsroman (z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre) verweisen auf die literarische Struktur der biografischen Erzählung:

  • Eine Heldin verlässt das Bekannte,

  • begegnet dem Fremden,

  • erfährt eine Krise,

  • transformiert ihr Selbstbild,

  • und kehrt mit einer neuen Lebensform zurück (die Jurte als symbolischer Ort des „anderen Lebens“).

Die Performativität liegt nicht nur im gelebten Wandel, sondern auch in der sprachlichen Gestaltung der Erzählung, die neue Wirklichkeiten imaginiert und zugleich Wirklichkeit formt.