Melani und ich unterhalten uns über ein Interview (FR434) mit einem Profi-Eishockeyspieler, dessen Lebenstraum zerplatzt und der sich ein neues Welt- und Selbstverhältnis aufbauen muss. Dabei beziehen wir uns auf den Soziologen Hartmunt Rosa und den Literaturwissenschafter und Philosophen Rüdiger Safranski. Also Literatur ist besonders relevant:
Rosa, Hartmut (2005) Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Rosa, Hartmut, (2006 ) Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung: Frankfurt am Main: Suhrkamp
Safranki, Rüdiger (2017): Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Fischer Verlag
Schmidt, Tim/Krebs, Moritz/Rader, Timur/Schamel, Liesa/Schulz, Birgit/Zirfas, Jörg (2025): Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung (i.E.)
Zentrales Zitat:
F: Also ja, also mit mir wurden noch zwei andere aussortiert [mh] und die erste Zeit war es vom Kopf her hart, aber beziehungsweise es war generell auch ein bisschen schwierig, weil ich auf einmal so viel Zeit hatte und ich gar nicht wusste, was ich mit dieser Zeit anfangen soll, (.) weil ich halt, wie gerade eben erwähnt, immer sehr kurze Zeitfenster am Tag hatte, um irgendwelche Sachen zu machen. [mh] Auf die eine Art und Weise war‘s schön mal nichts zu haben und keine Ahnung, mal den ganzen Tag Netflix zu gucken oder sonst was oder einfach mal zu chillen, (.) aber auf der anderen Seite, war es auch irgendwann langweilig, ich brauchte diese Routine wieder oder hatte wieder Lust auf diese Routine und dieses jeden Tag (.) zu ackern. /lacht/ [mh] Joa, aber es gibt immer zwei Seiten von der Medaille, weil auf der einen Seite, hatten wir teilweise im Sommer sechs bis acht Wochen Training, also das auch teilweise zwei Mal am Tag und das war halt schon hart, also da hattest du nicht mehr den Sommer. Wir hatten im Sommer- wir hatten das ganze Jahr über Training außer einen Monat und in diesem einen Monat konnten wir in den Urlaub fahren. (.) Urlaub war zum Beispiel auch eine schwierige Sache, weil wir halt immer verpflichtet waren am Training teilzunehmen und an den Spielen teilzunehmen und unser Urlaub halt so geplant werden musste, dass es in diesem einem Monat [mh] vonstatten geht. Dementsprechend hattest du auch keinen wirklichen Sommer, weil im Sommer wurde halt außerhalb des Eises trainiert. (.) Mit Laufen und Krafttraining, das war immer das Schlimmste und dafür bin ich sehr dankbar, dass ich das nicht mehr machen muss, /lacht/ weil das war immer eine Quälerei. (.) Und das dann halt teilweise sechs bis acht Mal die Woche, das war dann schon hart. [mh] Genau, das ist zum Beispiel die eine Sache, die ich nicht vermisse, aber letztendlich wie gesagt, [mh] vor allen Dingen nach der Zeit, (.) kurz nach der Zeit nach dem in aussortiert wurde, (.) war es halt schon irgendwie schwierig einen Alltag zu finden, weil man halt so viel Zeit hatte und ichdamit gar nicht klar kam und gefühlt nichts gemacht habe und die Tage nicht rum gingen, weil wie gesagt kein Alltag da war. (FR434, Z. 123-147)
Zusammenfassung der Podcast-Folge 162
Die 162. Folge des Podcasts Transformatorische Bildung beschäftigt sich mit der biografischen Erschütterung eines jungen Eishockeyspielers, dessen Lebenstraum, Profi zu werden, an der Schwelle zur Professionalisierung zerbricht. Im Mittelpunkt der Reflexion stehen Fragen nach Zeit, Veränderung und Bildung – analysiert im Licht der anthropologischen Bildungsforschung, insbesondere anhand der anthropologischen Kategorien, der Trias Emotion–Praxis–Theorie sowie dem Konzept der Performativität.
1. Zeit als Bildungsherausforderung
Wie ein roter Faden durchzieht das Thema Zeit die gesamte Episode. Es wird unterschieden zwischen:
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Beschleunigter Weltzeit (nach Hartmut Rosa): Die Jugend des Sportlers ist strukturiert durch ein straffes Regiment von Schule, Training und Schlaf – ohne Eigenzeit, ohne Pausen, ohne Aneignung der Welt.
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Eigenzeit (nach Safranski): Der Bruch eröffnet erstmals Zeiträume ohne Struktur, zunächst desorientierend, dann zunehmend produktiv.
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Narrative Zeit (nach Ricoeur): Die Erzählung selbst wird zum Medium, das objektive und subjektive Zeitdimensionen vermittelt.
2. Bildung durch Krise: Emotion, Praxis, Theorie
Der Bildungsprozess verläuft entlang einer biografischen Erschütterung und kann durch die Trias Emotion – Praxis – Theorie beschrieben werden:
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Emotion: Begeisterung für den Sport – Schock des Ausschlusses – Enttäuschung – Neugier – Freude am Neuen.
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Praxis: Disziplin im Training – Kontrollverlust – Neuanfang mit Alltagspraktiken (Freundschaften, Freizeitgestaltung, Reflexion).
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Theorie/Reflexion: Retrospektive Einordnung der Sportzeit als Ressource – Aneignung von Disziplin, Selbstkenntnis, Akzeptanz.
3. Anthropologische Kategorien im Interview
Die Moderator:innen greifen systematisch die sieben anthropologischen Kategorien auf, die für die Analyse biografischer Transformationen leitend sind:
a) Körper
Der Körper des jungen Mannes ist Ort von Disziplin und Überforderung. Die körperliche Belastung im Training, besonders im Sommer, wird rückblickend als „Quälerei“ beschrieben. Erst nach dem Bruch tritt ein neues Verhältnis zum Körper ein: Ruhe, Entspannung, Regeneration werden möglich.
b) Soziales
Der Verein fungiert als „Familie“, die soziale Identität stiftet. Nach dem Ausschluss wird diese soziale Ordnung obsolet. In der Krise gewinnt der Interviewte neue soziale Beziehungen – Freunde, Partys, Gespräche – und öffnet sich für neue soziale Resonanzräume.
c) Raum
Der biografische Raum ist zunächst eingeengt: Schule – Sporthalle – Bett. Erst nach dem Scheitern öffnet sich der Raum: neue Orte werden erkundet, Freizeit wird als räumliche Möglichkeit neu erfahren.
d) Zeit
Die zentrale Kategorie: Der junge Mann erfährt eine Transformation vom Leben in der Weltzeit zur Gestaltung von Eigenzeit. Die Leere nach dem Karriereende wird zur Schwelle eines neuen Zeitbewusstseins.
e) Kultur
Die Kultur des Leistungssports prägt das frühe Selbstbild: Erfolg, Disziplin, Effizienz. Nach dem Bruch entsteht ein kultureller Wandel: Es wird möglich, Genuss, Muße und Kontemplation in das Leben zu integrieren.
f) Subjekt
Der Interviewte wird vom Sportler-Subjekt – diszipliniert, funktional, zielgerichtet – zu einem reflektierenden, freien, emotional offenen Subjekt, das seine Geschichte erzählt, sich selbst als Akteur erkennt und Verantwortung übernimmt.
g) Grenzen
Zentrale Grenzerfahrung ist das Ausscheiden aus dem Kader – eine biografische „Grenze“, die zur Neuverhandlung des Selbst führt. Weitere Grenzen zeigen sich in körperlicher Erschöpfung, sozialer Isolation und dem Verlust von Orientierung, die durch neue Übergänge (Freundschaft, Reflexion) überschritten werden.
4. Performativität: Zeit verkörpern, Bildung erzählen
Im Schlussteil wird ein neuer Aspekt zentral: die performative Dimension des Interviews. Es wird deutlich, dass Bildung nicht nur durch Inhalt geschieht, sondern durch die Art der Erzählung selbst. Die Sprecher:innen reflektieren, dass Resonanz – im Sinne Rosas – nicht nur thematisiert, sondern im Gespräch selbst performativ hergestellt wird.
Zentrale Aspekte performativer Bildung in diesem Kontext:
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Erzählung als Transformation: Der Interviewte vollzieht im Sprechen eine Form der Selbstbildung, indem er sich seine Geschichte rückblickend aneignet.
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Zeitlichkeit als Form: Die zeitlichen Verschiebungen – Stillstand, Dehnung, Verdichtung – werden nicht nur beschrieben, sondern verkörpert.
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Affekt und Sprache: In der Art der Rede (Metaphern, Betonung, Zögern) manifestieren sich nicht nur Gedanken, sondern Haltungen und Weltverhältnisse.
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Resonanz im Gespräch: Die Resonanz zwischen Interviewten und Zuhörenden, zwischen Sprecher:in und Moderator:in, zwischen Text und Theorie – sie geschieht zwischen den Akteur:innen, nicht in ihnen. Das Gespräch selbst wird zum Bildungsakt.
5. Fazit: Zeit als Bildungsfigur
Die Folge illustriert exemplarisch, wie Zeit zur zentralen Bildungsfigur wird: Zeit als Mangel, Zeit als Überfluss, Zeit als Aneignung. Die biografische Transformation des jungen Mannes ist nicht linear, sondern rhythmisch: geprägt von Brüchen, Umwegen und Resonanzmomenten.