Transformatorische Bildung – Folge 168 „Die positive Katastrophe der Geburt“

In dieser Podcastfolge mit Klara und mir widmen wir uns einem außergewöhnlichen Fall biografischer Bildung (FR470)– der unbemerkten Schwangerschaft einer Frau, die erst wenige Minuten vor der Geburt erfährt, dass sie Mutter wird. Das Interview, das dieser Folge zugrunde liegt, ist so eindrücklich wie philosophisch herausfordernd: Es erzählt von Kontrollverlust, Überforderung und Angst – aber auch von einer zutiefst menschlichen Neuorientierung, in der aus dem Schock ein neues Verhältnis zur Welt entsteht. Die Geburt wird hier zur „positiven Katastrophe“: ein Zusammenbruch alter Gewissheiten, der zugleich den Beginn eines anderen Selbst markiert.


Anna*, 37 Jahre alt, erfährt erst wenige Minuten vor der Geburt ihres Sohnes Anton, dass sie schwanger ist – ein Ereignis, das sie als „positive Katastrophe“ beschreibt. Aus der anfänglichen Überforderung, Angst und Orientierungslosigkeit entsteht schrittweise ein neuer Lebensentwurf, in dem Fürsorge, Verantwortung und Intuition zentrale Rollen spielen. Sie erlebt, wie sich familiäre und freundschaftliche Beziehungen teils auflösen, teils vertiefen, und wie sie in solidarischen Strukturen – etwa durch Kolleg:innen – neue Formen von Gemeinschaft erfährt. Im Umgang mit Ärzten und Behörden entwickelt sie Selbstbewusstsein und Kritikfähigkeit, lernt, Grenzen zu setzen und Hilfe anzunehmen. Am Ende steht eine gereifte Haltung, in der sie Dankbarkeit als Form von Freiheit erkennt: das Wissen, dass nicht Kontrolle, sondern Beziehung den Kern ihres neuen Lebens bildet.

„Der Begriff der Katastrophe (griechisch für Wendung, Umsturz) gehört in den
Bereich der Dramaturgie und insbesondere der Tragödie, in der sie den entscheidenden Wendepunkt bezeichnet, der in der Regel als Abschluss einer Handlung eine Lösung herbeiführt und das Schicksal des Helden – zum Guten (Auflösung einer komödiantischen Verwicklung) und zum Schlimmen (etwa im tragischen Untergang) – besiegelt. Dazu schreibt Michael Sonntag (2003, S. 22): „Das Präfix kata, ‚herab‘ oder ‚über etwas hin, um etwas herum‘, hat auch die Bedeutung von ‚gänzlich, umfassend‘, wie in ‚katholisch‘. Stre-phein bezeichnet ein aktives, mehr oder weniger plötzliches ‚ Wenden“‘. Die Katastrophe ergibt sich in einer Art innerer Notwendigkeit aus äußeren Ereignissen, göttlichen oder weltlichen Mächten und den charakterlichen Eigenschaften der handelnden Personen. Seit dem 18. Jahrhundert wird der Begriff der Katastrophe immer stärker auf nicht-theatrale Zusammenhänge bezogen, auf sogenannte ‚Naturkatastrophen‘ oder auf menschengemachte Katastrophen. Im Deutschen wird der Begriff erst spät heimisch, im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist er noch nicht verzeichnet.“ (Schmidt et. al. 2026)

Im Zentrum steht die Frage, wie sich eine solche Erfahrung aus Sicht der anthropologischen Bildungsforschung verstehen lässt. Wir gehen dabei vier Grundaspekten nach: der Transformation, der Trias aus Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas (2021), den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas (2014) sowie der Performativität des Sprechens. Bildung erscheint in diesem Zusammenhang nicht als Lernprozess, sondern als existenzielle Antwort auf eine Erfahrung, die sich rationalem Begreifen entzieht. Mit Waldenfels gedacht: Das Fremde trifft den Menschen als Pathos – und Bildung geschieht, wo darauf eine Response erfolgt, ein handelndes und sprachliches Sich-Einlassen auf das Unverfügbare.

Besonders intensiv besprechen wir die anthropologischen Dimensionen des Interviews: den Körper als Ort der Fremdheit und Intuition, den Raum als Schutz- und Übergangszone, die Zeit als Dehnung zwischen Schock und Reflexion, die Sozialität als Spannungsfeld zwischen Verlust und Solidarität. In der Veränderung dieser Dimensionen zeigt sich Bildung als leibliches, relationales und sprachliches Geschehen. Anna, die Erzählerin, wird im Verlauf ihrer Geschichte zur Gestalterin einer neuen Lebensordnung, in der Verantwortung und Autonomie, Fürsorge und Selbstbehauptung in ein neues Gleichgewicht treten.

Im Gespräch beziehen wir außerdem Hannah Arendts Konzept der Natalität auf das Interview. Arendt versteht Natalität als die Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen – als Ausdruck der menschlichen Freiheit. Annas Geschichte lässt sich genau so lesen: als radikaler Neuanfang, der nicht nur die Geburt eines Kindes, sondern die Geburt eines neuen Selbst markiert. In der Unvorhersehbarkeit dieses Ereignisses wird die conditio humana spürbar – die Möglichkeit, sich selbst inmitten der Kontingenz neu zu entwerfen.

Als Bildungsfiguration hebt die Arbeit schließlich die Spannung zwischen Gemeinschaft und Autonomie hervor. Bildung zeigt sich nicht als Rückzug ins Private, sondern als Bewegung zwischen relationaler Geborgenheit und individueller Selbstwerdung. Die Solidarität der Kolleg:innen, die Unterstützung der Eltern, aber auch die bewusste Abgrenzung gegenüber destruktiven Beziehungen – all das sind Ausdruck dieser figuralen Dialektik.

Das Fazit des Interviews bringt diesen Gedanken in einer einfachen, zugleich tiefen Sprache zum Ausdruck:

„Und jetzt weiß ich, dass es gar nicht so schlimm ist, auch mal Hilfe anzunehmen, und dass das nicht immer gleich mit einem Zurückgeben verbunden ist, dass man immer noch einen draufsetzen muss, sondern dass das Dankesagen so viel mehr wert ist als alles andere.“

In diesem Satz kulminiert, was anthropologische Bildung meint: die Öffnung für den Anderen, die Anerkennung der eigenen Endlichkeit und die Fähigkeit, aus der Erfahrung der Abhängigkeit eine neue Form von Freiheit zu gewinnen.

„Die positive Katastrophe der Geburt“ erzählt so von einer existentiellen Transformation, die zugleich biografisch konkret und philosophisch universell ist – von der Möglichkeit, im Erschüttertwerden menschlich zu werden.

Literatur

Schmidt, Tim/Krebs, Moritz/Rader, Timur/Schamel, Liesa/Schulz, Birgit, Zirfas, Jörg: Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2026

Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2014): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer VS.

Zirfas, Jörg (2021): Pädagogische Anthropologie. UTB

Transformatorische Bildung – Folge 167 „Vegetarische Bildung: Für den Genuss von zehn Minuten muss ein Lebewesen sterben“

In dieser Episode sprechen Ira und ich über das tiefgehende narrative Interview mit Emma (FR465). Ich habe mich über das Gespräch sehr gefreut, weil schon länger kein Podcast mehr von mir erschienen ist.

Die 19-jährige Emma wuchs in einem Umfeld auf, in dem der Bezug zu Tieren – durch Haustiere und Bauernhofbesuche – eng war, der Fleischkonsum jedoch als selbstverständlich galt. Diese Einstellung änderte sich radikal mit etwa fünfzehn Jahren, ausgelöst durch Social Media und schulische Dokumentationen über Tierhaltung. Die Erkenntnis, „dass für einen kurzen Genuss ein Lebewesen stirbt“, führte zu einer tiefen Irritation. Nach einem anfänglichen Versuch, ihren Fleischkonsum zu beschränken, traf Emma die konsequente Entscheidung, von einem Tag auf den anderen ganz auf Fleisch zu verzichten. Seit über drei Jahren lebt sie nun vegetarisch. Trotz anfänglicher Skepsis im familiären Umfeld fand sie im Laufe der Zeit Unterstützung, wobei ihre Angehörigen ihren eigenen Fleischkonsum reduzierten. Während ihres Au-pair-Aufenthaltes in den USA erlebt sie erneut Fremdheitserfahrungen, die ihre ethisch begründete Haltung jedoch festigen. Sie beschreibt ihren Vegetarismus als bewussten Lebensstil, wobei Veganismus eine mögliche Zukunftsperspektive bleibt.

Wir beleuchten Emmas Geschichte anhand des Modells der anthropologischen Bildungsforschung (Schmidt et al. 2025). Dieses qualitativ-empirische Verfahren dient der Rekonstruktion von Bildungsprozessen, indem es narrative Interviews mit bildungstheoretischen und anthropologischen Perspektiven verbindet. Bildung wird dabei – im Anschluss an Kokemohr und Koller – als Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in der Auseinandersetzung mit Krisen- und Fremdheitserfahrungen verstanden.

Methodisch kombiniert der Ansatz:
1.) Die Narrationsanalyse nach Fritz Schütze zur Sichtbarmachung biographischer Dynamiken und das Modell der Transformation nach Kokemohr und Koller.
2.) Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, welche das Verhältnis von Gefühl, Handlung und Reflexion strukturiert und die Dynamik der Erzählung greifbar macht (diachrone Ebene).
3.) Die sieben anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen) zur Analyse der Bildungsprozesse (synchrone Ebene).
4.) Rhetorisch-performative Analysen (Ricoeur, Koschorke), um die sprachliche und symbolische Gestalt der Erzählung zu erfassen.

Im Gespräch thematisieren wir Essen und Ernährung als anthropologische Dimension und diskutieren ihren Bezug zur Klimakatastrophe und zur Biodiversitätskrise. Darüber hinaus arbeiten wir die ethischen, politischen und ästhetischen Dimensionen ihrer Entscheidung heraus und erörtern abschließend die Bildungsfiguration, die die Erzählerin als „Kämpferin“ auf Basis einer explorativen Grundhaltung inszeniert.

Literatur

Als Quelle zur anthropologischen Bildungsforschung empfehle ich:

Der Kampf um die Lebensgrundlagen. Bildung als solidarischer Prozess. (Tim Schmidt, Moritz Krebs, Timur Rader, Liesa Schamel, Birgit Schulz & Jörg Zirfas) in Psychologie und Gesellschaftskritik, 20.08.2025.

Katastrophenbildung (Ankündigung bei Beltz Juventa)

Große Dinge werfen ihren Schatten voraus. So ging es mir, als ich heute gesehen habe, dass unser Buch Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung“ bei Beltz Juventa angekündigt wurde. Als voraussichtliches Datum für die Veröffentlichung wird der 18.12.2025 angegeben. Die Autor:innen sind in alphabetischer Reihenfolge: Moritz Krebs, Timur Rader, Liesa Schamel, Tim Schmidt, Birgit Schulz und Jörg Zirfas. Ich bin sehr gespannt auf die Reaktion von meinen Studierenden und von der Fachöffentlichkeit. Unsere Forschungsfrage ist: Dieses Buch geht mithilfe einer anthropologischen Bildungsforschung von narrativen Interviews den Fragen nach, warum Menschen sich in und durch Katastrophen bilden, welche Inhalte und Formen dabei wichtig sind und welche Ziele sie hierbei verfolgen.“ Dabei behandeln wir die drei Themenfelder: Umweltkatastrophen, Fluchterfahrungen und Distanzierung und Betroffenheit.

Für mich persönlich ist es ein wichtiger Schritt. So habe ich seit langem nichts veröffentlicht. Aber in das Buch sind die Überlegungen und Diskussionen aus meinem Podcastprojekt eingeflossen. Auch Lektürespuren aus dem Artikel (2007): Angst – Augen – Blick von Tim Schmidt, Tanja Trede-Schicker und Gereon Wulftange finden sich an vielen Stellen. Das Buch verknüpft für mich die Auseinandersetzung mit der Theorie transformatorischer Bildung aus Hamburg mit den Diskussionen der Pädagogischen Anthropologie aus Köln am Lehrstuhl von Prof. Jörg Zirfas und spannt damit den Bogen meines Denkens der letzten zwei Jahrzehnte. Das Schreiben war für mich ein Experiment und auch eine Herzensangelegenheit. Im Buch heißt es: Dieses Buch verdankt sich einer Initiative von Tim Schmidt, der uns auf die Bedeutung der von seinen Studierenden in seinen Seminaren erhobenen narrativen Interviews über Katastrophen hingewiesen hat. Anders formuliert, hat er uns für die Katastrophenbildung begeistert.“ Ich hoffe, dass sich diese Begeisterung für die inhaltliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung auch auf die Leser:innen übertragen wird, wobei die Themen eher Anlass zur Sorge geben.

 

Der Kampf um die Lebensgrundlagen. Bildung als solidarischer Prozess; ist erschienen.

Es ist geschafft. Die erste Publikation unserer Arbeitsgruppe aus Köln (Tim Schmidt, Moritz Krebs, Timur Rader, Liesa Schamel, Birgit Schulz & Jörg Zirfas) zur Katastrophenbildung ist veröffentlicht. Wie immer ist es ein langer Weg gewesen. Umso mehr freue ich mich, jetzt das Ergebnis zu sehen und bald auch physisch in den Händen zu halten. Mit der Publikation gibt es eine erste Referenz für die von uns entwickelte anthropologische Bildungsforschung. Eine weitere Publikation und das dazugehörige Buch ist in Vorbereitung.

Mein kleiner Podcast kann auch als Vorübung und Experimentierfeld für die anstehenden Veröffentlichungen gesehen werden. Daher möchte ich nochmal ausdrücklich allen Studierenden aus meinen Seminaren und den Gesprächspartner*innen danken, ohne die das Projekt nicht möglich gewesen wäre. Zudem halte ich den Erscheinungsort, die Zeitschrift “Psychologie & Gesellschaftskritik” und das Themenheft “Nachhaltigkeit und Norm” für ein sehr angenehmes Umfeld. Ich freue mich darauf, die anderen Artikel aus der Ausgabe zu lesen.

https://www.psychologie-aktuell.com/journale/gesellschaftskritik/bisher-erschienen/inhalt-lesen/2025-1-193.html

 

Vorträge zu dem Thema

Perspektiven der Pädagogischen Anthropologie
Arbeitstagung der Kommission am 24./25.05.2024 an der Universität Duisburg-Essen

Tim Schmidt, Timur Rader,  Jörg Zirfas: „Anthropologische Bildungsforschung im Kontext von Klimakatastrophen“

Kommission Pädagogische Anthropologie
Perspektiven der Pädagogischen Anthropologie
Arbeitstagung 13. & 14. Juni 2025

Tim Schmidt, Moritz Krebs, Timur Rader,  Jörg Zirfas: Ausgewählte Arbeitsergebnisse des Projekts ‚Katastrophenbildung‘ und Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung

Pädagogische Anthropologie des Erbes und des (Ver-)Erbens
Jahrestagung der DGfE-Kommission Pädagogische Anthropologie, vom 22.bis 24 September 2025 an der Universität zu Köln

Tim Schmidt (Köln):  Ungewolltes Erbe – Die Flutkatastrophe in NRW aus der Perspektive der anthropologischen Bildungsforschung

DGfE: Brüche München vom 2. bis 25. März 2026

Symposien Mo. 14:30 – 16:30 Uhr
SY 21: Katastrophenbildung

Moritz Krebs, Timur Rader, Tim Schmidt (Universität zu Köln): Katastrophe, Flucht und Bildung – Eine anthropologische Analyse auf Grundlage zweier narrativer

Teilnehmer am Netzwerk Pädagogische Anthropologie, Gruppe: »Anthropologische Dimensionen von Fluchterfahrungen. Lektüren von Fluchterzählungen mit Hilfe der anthropologischen Bildungsforschung«
Tim Schmidt | Ansprechperson

Transformatorische Bildung – Folge 166 „Die waren quasi meine Pinkys und ich war deren Brain.“ Anthropologische Bildungsforschung einer Person mit Tetraspastik

Ronja und ich unterhalten uns über ihre Bachelorarbeit, in der sie mit Hilfe der anthropologischen Bildungsforschung die Erzählung einer Person mit Tetraspatik analysiert.

Dabei gehen wir nach den vier Analyseschritten der anthropologischen Bildungsforschung vor:

  1. Transformatorische Bildung nach Kokemohr und Koller in der Analyse der sprachlichen Figuren
  2. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, um die diachrone Ebene des Interviews beschreiben zu können
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper., Raum, Zeit, Soziales, Kultur, Subjekt und Grenzen), um das Interview in der synchronen Ebene zu analysieren zu können.
  4. Die Frage nach der Performatitvität, um die Gesamtgestalt der Erzählung als Bildungsfiguration zu beschreiben.

Zentral ist dabei die Theorie der Anrufung und Resignifizierung nach Butler, die sich über Materialisierung in allen anthropologischen Kategorien zeigt.

Das Interview bündelt sich über die Besprechung der verschiedenen Räume (Schule, Berufsbildungswerk, Altenheim , teilstationäre WG)

Mit dem Hund ist zudem eine wichtige Bildungsfigur angesprochen.

 

(Zusammenfassung GPT). Einleitung: Bildung und Behinderung – Die Stimme einer Betroffenen

In der Podcastfolge sprechen Ronja und Tim über Ronjas Bachelorarbeit, in der sie mithilfe der anthropologischen Bildungsforschung die narrative Erzählung einer Person mit Tetraspatik analysiert. Ausgangspunkt ist ein Interview, das Ronja mit einer jungen Frau geführt hat, deren Leben von einer frühkindlich erworbenen Mehrfachbehinderung geprägt ist. Die Erzählung der Interviewten wird dabei nicht nur als biografische Rückschau verstanden, sondern als performative Bildungsfigur, in der sich subjektive Transformation, soziale Räume und sprachliche Materialisierung miteinander verschränken.


1. Transformatorische Bildung und die Figur des Widerstands

Im ersten Analyseschritt wird die sprachliche Gestaltung der Erzählung unter dem Gesichtspunkt transformatorischer Bildung nach Koller und Kokemohr betrachtet. Im Zentrum steht hierbei das Konzept des Widerstands. Die Erzählerin verwendet wiederholt Metaphern, Kontrastierungen und direkte Bewertungen, um den Spannungsbogen zwischen dem institutionellen Rahmen (z. B. Schule, Altenheim) und dem eigenen Selbstverhältnis herauszuarbeiten. In der Schule wird sie systematisch unterschätzt und durch Klassifizierungspraxen (z. B. “geistige Behinderung”) in ihrer Subjektwerdung behindert. Ihre sprachlichen Figuren sind dabei nicht bloß illustrative Mittel, sondern Träger eines symbolischen Protestes. Die performative Kraft der Sprache liegt insbesondere in der resignifizierenden Aneignung von Zuschreibungen, etwa wenn sie den Begriff „behindert“ aufgreift, um ihn mit biografischer Stärke zu konfrontieren.


2. Emotion – Praxis – Theorie: Die Trias der biografischen Dynamik

Die Analyse der Trias nach Zirfas zeigt, wie sich die emotionale, praktische und theoretische Ebene im Erzählverlauf diachron entfaltet. Emotionale Momente sind eng mit Situationen der Diskriminierung und des Empowerments verbunden – etwa das Gefühl der Enteignung im schulischen Raum versus das Gefühl von Gemeinschaft und Autonomie in späteren Kontexten wie der WG oder im Umgang mit ihrem Hund. Auf der Praxisebene wird besonders deutlich, wie sehr alltägliche Handlungen – etwa das Sprechen, das Wohnen, das Kommunizieren mit dem Hund – als Bildungspraktiken erscheinen. Theoretisch wird das Interview durch Reflexionen auf gesellschaftliche Zuschreibungsmechanismen und Teilhabe gerahmt. Die Erzählerin verknüpft individuelle Erfahrungen mit strukturellen Einsichten, etwa wenn sie den Begriff “Altersheim” problematisiert oder die Bedeutung von Selbstvertretung thematisiert.


3. Anthropologische Kategorien: Körper, Raum und Grenze als zentrale Felder

In der synchronen Analyse treten vor allem drei anthropologische Kategorien hervor: Körper, Raum und Grenze. Der Körper ist nicht nur Träger einer Behinderung, sondern erscheint als umkämpfter Ort der Zuschreibung, des Begehrens nach Autonomie und der kommunikativen Handlung. Ihre Tetraspatik ist dabei nicht einfach ein Defizit, sondern Ausgangspunkt einer anderen Weltwahrnehmung und eines anderen Ausdrucks. Der Raum zeigt sich als zutiefst normativ strukturiert – von der Schule über das Berufsbildungswerk bis zur teilstationären Wohngruppe. Diese Räume markieren nicht nur Stationen, sondern sind Orte der Auseinandersetzung und des Wandels. Die Grenze erscheint schließlich sowohl körperlich als auch sozial, etwa in Form sprachlicher Barrieren, der Unsichtbarkeit in Gruppen oder der strukturellen Ausgrenzung. Zugleich zeigen sich Momente der Grenzüberschreitung – etwa durch das Durchsetzen des eigenen Wohnwunsches oder das Sprechen über Sexualität und Nähe.


4. Performativität und Resignifizierung: Die Sprache als Bildungsfigur

Im vierten Analyseschritt steht die performative Dimension der Erzählung im Zentrum. Ausgehend von Judith Butlers Theorie der Anrufung und Resignifizierung wird deutlich, dass die Erzählerin nicht nur über ihr Leben berichtet, sondern es zugleich in Szene setzt. Ihre Sprache bringt ihre Subjektivität performativ hervor – nicht als gegebene Identität, sondern als fortwährende Aushandlung. Dies zeigt sich exemplarisch in der Art, wie sie Zuschreibungen aufnimmt, bearbeitet und in ein neues Bedeutungsfeld überführt. Besonders eindrucksvoll ist dies in ihrer Beziehung zu ihrem Hund: Der Hund wird zur Bildungsfigur, weil er als Resonanzpartner wirkt – nicht urteilend, sondern zugewandt. In dieser Beziehung werden neue Formen von Nähe, Kommunikation und Anerkennung erfahrbar, die im Kontrast zu institutionellen Kontexten stehen. Damit erscheint die Erzählung als ein Prozess der symbolischen Selbstermächtigung, in dem sich Bildungsprozesse nicht im klassischen Sinne von Wissensaneignung, sondern als Neugestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses vollziehen.


Schlussbemerkung: Erzählung als Bildung der Differenz

Die Podcastfolge macht eindrücklich deutlich, wie das narrativ-performative Interview nicht nur Inhalte transportiert, sondern Bildungsprozesse selbst sichtbar macht. Die Anwendung der anthropologischen Bildungsforschung ermöglicht es, biografische Transformationen im Spannungsfeld von Körper, Sprache und Gesellschaft analytisch zu erfassen – und damit Bildung als tiefgreifende Refiguration des Verhältnisses zur Welt zu begreifen.

 

Transformatorische Bildung – Folge 165 „Ich kenne viele Leute hier, ihr alle kennt Nina.“ Flucht aus Syrien

Emma, Lena und ich unterhalten uns über eine Fluchterzählung (FR451) aus Syrien und die Wiedergeburt im neuen Land.

Dabei beziehen wir uns auf die

  1. Transformationstheorie nach Kokemohr und Koller
  2. Das Konzept der Fremdheitserfahrung nach Waldenfels
  3. die Trias von Emotion, Praxis und Theorie
  4. die sieben anthropologischen Kategorien von Körper, Raum, Zeit, Soziale, Kultur, Subjekt und Grenzen
  5. Und die Frage der Performativität, also wie das Interview gestaltet ist.

Besonders interessant fand ich die Frage der Übergangsfiguren im Interview, die einen neuen Zugang zur Welt ermöglichen.

Wir gehen zudem auf das Konzept der Natalität nach Hannah Arendt ein.

„Auch an der Natalität sind alle Tätigkeiten gleicherweise orientiert, da sie immer auch die Aufgabe haben, für die Zukunft zu sorgen, bzw. dafür, daß das Leben und die Welt dem ständigen Zufluß vom Neuankönnlingen, die als Fremdlinge in sie hineingeboren werden, gewachsen auf ihn vorbereitet bleibt. (…) Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in der Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handlen.“ (Arendt 2023, S. 25)

Arndt, Hannah (2023): Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper 3. Aufl.

(Zusammenfassung der Folge von GPT.)

Einleitung: Stimmen der Flucht 

In der 165. Folge des Podcasts „Transformatorische Bildung“ sprechen Tim, Emma und Lena über ein narratives Interview mit einer Frau, die unter dem Pseudonym „Nina“ geführt wird. Das Interview dokumentiert ihre Flucht aus Syrien im Jahr 2015 gemeinsam mit ihrem Sohn und thematisiert die anschließende Neuorientierung in Deutschland. Der Fokus des Gesprächs liegt auf Bildungsprozessen im Sinne einer Wiedergeburt im neuen Land, verstanden als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses unter widrigsten Bedingungen. Dabei werden zentrale theoretische Bezugspunkte eingebracht: die Transformationstheorie nach Kokemohr und Koller, Waldenfels’ Konzept der Fremdheitserfahrung, die anthropologische Trias von Emotion, Praxis und Theorie sowie die sieben anthropologischen Kategorien. Ergänzt wird das Gespräch durch Arendts Begriff der Natalität, verstanden als Möglichkeit des Neuanfangs durch Handeln.


Transformation und Fremdheitserfahrung 

Die Fluchterzählung ist von Anfang an durchzogen von der Sorge um den Sohn, dessen Wohlergehen für Nina zentraler Beweggrund zur Flucht war. Damit wird bereits zu Beginn eine Figur der Natalität im Sinne Arendts sichtbar: die Sorge für die Zukunft der Nachkommenschaft, die als „Fremdlinge in die Welt hineingeboren“ werden. Auf theoretischer Ebene wird das Interview mit Kokemohrs Konzept der „subsumptionsresistenten Erfahrung“ verknüpft, also Erfahrungen, die nicht ohne Weiteres in bestehende Deutungsmuster eingeordnet werden können und daher eine Transformation des Selbstverhältnisses auslösen.

Emma betont die Bedeutung der Fremdheitserfahrung im Sinne Waldenfels’: das passive Erleiden eines Widerfahrnisses, das nicht vollständig durch aktive Handlung kontrolliert werden kann. Diese Erfahrung des Ausgesetztseins und der existenziellen Erschütterung wird in der Flucht – insbesondere während der Bootsfahrt – paradigmatisch sichtbar. Die Erzählung der Interviewten ist geprägt von Wiederholungen wie „Ich habe immer Angst“, die als rhetorische Figur eine drängende, nicht versiegende Angst markieren. Lena beschreibt diese Sequenz als einen Punkt, an dem Sprache selbst an ihre Grenzen stößt, was sich in Parataxen, Satzabbrüchen und elliptischen Strukturen zeigt.


Emotion – Praxis – Theorie 

Die triadische Struktur der anthropologischen Bildungsforschung nach Zirfas wird exemplarisch entfaltet: Emotionen – insbesondere Angst – prägen die gesamte Erzählung. Sie transformieren sich jedoch im Verlauf zu Formen des Selbstvertrauens und der Selbstbehauptung. Nina entwickelt zunehmend ein neues Selbstbild: vom „Ich kann nicht“ zum „Ich bin Nina – alle kennen mich“. Diese Entwicklung wird als ein Moment positiver Selbstwirksamkeit gedeutet. Damit wird Bildung nicht nur als Leiden an der Welt, sondern auch als aktive Neuorientierung im Handeln sichtbar – eine Bewegung von Passivität zu Autonomie.


Anthropologische Kategorien: Sprache, Körper und Grenzen etc.

Im weiteren Verlauf wird das Interview entlang der sieben anthropologischen Kategorien gelesen. Besonders zentral ist der Körper, der während der Flucht extremen Bedingungen ausgesetzt ist („wir schlafen kaum, wir laufen immer“), sowie die Kategorie der Sprache: Nina beschreibt mehrfach, sie habe „keine Sprache“. Dieser Verlust verweist auf den anthropologischen Grundsatz, dass Bildung wesentlich in der Sprache geschieht – wie Humboldt es nannte: als „Bildungsorgan des Gedankens“. Der sprachliche Neuanfang in Deutschland wird so zu einem symbolischen Akt der Wiedergeburt, der zugleich mit einem Gefühl der Entfremdung verbunden ist. Auch das Gedächtnis, das Erzählen als erinnernde Praxis, wird thematisiert: Das Interview selbst ist ein Versuch, das Unaussprechliche sagbar zu machen – eine Grenzarbeit an der Grenze zwischen Erfahrbarkeit und Mitteilbarkeit.


Geburt, Wiedergeburt und Natalität 

Die Vorstellung von Geburt als Möglichkeit des Neubeginns wird im Anschluss durch Arendts Konzept der Natalität vertieft. Im Kontext des Interviews erhält dieser Begriff eine doppelte Bedeutung: zum einen biografisch – Nina ist Mutter und ihre Handlung ist auf das Leben ihres Sohnes hin orientiert – zum anderen existenziell – sie selbst erfährt eine Wiedergeburt durch das Ankommen in Deutschland. Diese doppelte Natalität verweist auf das Vermögen, „einen neuen Anfang zu machen“, wie Arendt es formuliert. Besonders eindrucksvoll wird dies in der Entscheidungsszene, als Nina – nach einem Albtraum – sagt: „Ich kann nicht mehr, ich muss weg.“ Diese Sätze erscheinen formal als performative Hauptsätze und markieren einen Wendepunkt, in dem das Unsagbare in Handlung übergeht.


Ambivalenzen von Heimat und Fremde 

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Ambivalenz des Heimatbegriffs. Obwohl Nina vor dem Krieg floh und der Verlust existenziell war, spricht sie von Heimweh. In der Formulierung „Deutschland ist wie mein Heimatland, aber ich habe Heimweh“ wird ein Zustand des Dazwischen deutlich: eine prekäre Zugehörigkeit, die sich nicht eindeutig verorten lässt. Lena beschreibt dies als Identitätsdifferenz zwischen dem Gefühl von Halb-Syrisch und Halb-Deutsch. Diese Ambiguität ist nicht auflösbar, sondern konstitutiv für das neue Selbstverhältnis.


Fazit: Performativität und Sprachgrenzen

Am Ende des Gesprächs wird die Performativität des Interviews reflektiert. Die Erzählung selbst ist bereits ein Bildungsakt – sie macht sichtbar, was sprachlich schwer zu fassen ist. Die Parataxen, Wiederholungen und affektiven Aufladungen markieren Grenzorte der Sprache, an denen die Gewalt des Erlebten durchscheint. Die Interviewten thematisieren die Unmöglichkeit, diese Erfahrungen vollständig zu teilen, aber auch den Versuch, sie dennoch zu vermitteln – ein paradoxales Sprechen des Unsagbaren.


Zusammenfassung:

Die Podcastfolge zeichnet ein dichtes Bild einer biografischen Transformation, die unter existenziellen Bedingungen stattfindet. Die Fluchterfahrung wird dabei nicht nur als politische oder soziale Herausforderung verstanden, sondern als Bildungsprozess im tiefen Sinne: als Umgestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses, in dem Angst, Sprachverlust, Körpererfahrung, Erinnerung, Heimatlosigkeit und Neuanfang miteinander verschränkt sind. Die Kombination aus theoretischer Tiefenschärfe und narrativer Empathie verleiht der Folge eine besondere Dichte – sie macht deutlich, wie Bildung auch an den Rändern des Sagbaren beginnt.

Transformatorische Bildung – Folge 164 „vom Scheitern, vom Leid zum […] Sieg und Erfolg und zum Frieden.“ Erfahrungen mit Makroglossie

Im Gespräch mit Annika unterhalten wir uns über das Interview mit Elias* (FR450). Zentral ist eine Makroglossie, eine Vergrößerung seiner Zunge, die zu verschiedenen Erfahrungen mit Ausgrenzung führt.

Zunächst besprechen wir die vier Bausteine der anthropologischen Bildungsforschung.

  1. Transformatorische Bildung nach Kokemohr und Koller.
  2. Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas.
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen).
  4. Die Frage nach Performativität und Normativität.

Der Bezugstheorie ist das Modell der Anrufung und Resignifizierung nach Butler.

Zusammenfassung GPT.

00:00–00:03: Vorstellung und thematische Einleitung

In dieser Folge des Podcasts „Transformatorische Bildung“ spricht Tim mit der Studentin Annika über ein Interview mit Elias*, einem jungen Mann mit Makroglossie. Die Episode beginnt mit einem kurzen persönlichen Einstieg, in dem Annika von ihrem Studium berichtet – sie studiert Grundschullehramt in Köln, hat aber zuvor bereits ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen. Die Gesprächspartner*innen leiten dann über zur zentralen Fragestellung der Folge: Wie kann die biografische Erzählung von Elias, der mit einer stark vergrößerten Zunge lebt, im Rahmen der anthropologischen Bildungsforschung interpretiert werden?


00:03–00:09: Die vier Bausteine der anthropologischen Bildungsforschung

Tim führt in die vier konzeptionellen Bausteine der Analyse ein: (1) die Theorie der transformatorischen Bildung nach Kokemohr und Koller, (2) die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, (3) die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen), sowie (4) die Frage nach der Performativität und Normativität der Erzählung. Diese Struktur bildet das methodologische Rückgrat der Interviewanalyse.


00:09–00:13: Transformatorische Bildung und rhetorische Figuren

Annika erläutert, wie sie den Begriff der Bildung im transformatorischen Sinne verstanden hat: als tiefgreifende Veränderung grundlegender Welt- und Selbstverhältnisse, erkennbar in sprachlich-rhetorischen Figuren wie Metaphern, Vergleichen und wiederkehrenden Motiven. Diese Figuren erlauben eine Analyse der symbolischen Selbstverortung im Weltbezug. Das Interview mit Elias wird dabei als Zeugnis eines solchen Bildungsprozesses verstanden.


00:13–00:18: Trias von Emotion, Praxis und Theorie

Anschließend wird die Trias (Emotion, Praxis, Theorie) als Strukturierungshilfe erläutert. Annika hebt hervor, dass Elias’ Erzählung nicht in einer linearen Logik dieser drei Phasen verläuft, sondern dass Emotion und Praxis eng verwoben sind. Seine Theorie, also die Bedeutung, die er seinem Lebensweg retrospektiv zuschreibt, lässt sich dennoch rekonstruieren: ein affirmativer Umgang mit erlittenem Schmerz, Krankheit und sozialer Ausgrenzung.


00:18–00:25: Anthropologische Kategorien und ihre heuristische Funktion

Die sieben anthropologischen Kategorien geben laut Annika Orientierung, um das Interview auf wiederkehrende Dimensionen menschlicher Existenz hin zu analysieren. Besonders die Kategorien „Körper“ und „Grenzen“ sind in Elias’ Fall zentral: Sein Körper wird permanent markiert, bewertet und als „abweichend“ klassifiziert. Auch kulturelle und soziale Kontexte werden sichtbar – etwa die schulische Institution als Raum normativer Ordnung.


00:25–00:34: Biografische Kernerinnerung als Szene der Anrufung

Ein zentrales Element des Gesprächs ist die sogenannte „Anrufung“, wie sie bei Judith Butler beschrieben wird. Elias erinnert sich an eine Szene im Kindesalter: Ein älterer Mann streckt ihm auf der Straße die Zunge heraus – eine symbolische Geste der Demütigung, die Elias tief geprägt hat. Diese Szene wird als performative Anrufung gedeutet, durch die Elias als „anders“ oder „abweichend“ adressiert wird – ein Akt, der seine Subjektivierung innerhalb gesellschaftlicher Normen beeinflusst.


00:34–00:43: Schule als Ort der Normalisierung und Widerstand

Eine weitere Szene betrifft ein Gespräch mit einer Schulleiterin, die Elias aufgrund seiner äußeren Erscheinung den Besuch einer Förderschule nahelegt. Die Mutter widersetzt sich dieser Anrufung und verteidigt die Normalität ihres Sohnes. Diese Szene wird als Beispiel einer Resignifizierung gedeutet: Eine normativ ausgrenzende Anrufung wird nicht einfach angenommen, sondern aktiv umgewendet. Elias und seine Mutter beanspruchen eine andere Lesart seiner Subjektivität – jenseits der Pathologisierung.


00:43–00:49: Vulnerabilität und Prekarität nach Butler und Dederich

Im Anschluss werden Butlers Begriffe der Verletzlichkeit und Prekarität mit Markus Dederichs Konzept der körperbezogenen Vulnerabilität verknüpft. Elias’ Körper wird von außen als „abweichend“ markiert – dies erhöht die Wahrscheinlichkeit für Verletzungen im sozialen Raum. Die Szene mit der Zungengeste fungiert dabei als emblematische Chiffre für diese gesellschaftliche Herstellung von Prekarität und Exklusion.


00:49–Ende: Performativität und die transformative Kraft der Erzählung

Gegen Ende reflektieren Tim und Annika über die performative Dimension des Interviews selbst. Elias formuliert seine Geschichte nicht als Opfernarrativ, sondern betont am Ende seine Dankbarkeit und seinen Stolz. Dies lässt sich als eine Form von aktiver Resignifizierung begreifen: Die Narrative wirkt nicht nur retrospektiv erklärend, sondern auch prospektiv identitätsbildend. Die performative Kraft der Erzählung besteht gerade darin, neue Handlungsspielräume im Diskurs zu eröffnen.

 

Transformatorische Bildung – Folge 163 „Erfahrungen einer Mutter im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus“

Dean und ich unterhalten uns über die „Erfahrungen einer Mutter im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus“, die sie im narrativen Interview (FR436) erzählt. Wie gehen zunächst auf die Vorgehensweise der anthropologischen Bildungsforschung ein. Diese besteht aus den vier Schritten.

  1. Transformation nach Kokemohr und Koller
  2. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Raum, Zeit, Subjekt, Kultur und Grenzen nach Wulf und Zirfas
  4. Die Performativität und Normativität der biographischen Erzählung.

Wir besprechen das Interview mit der Theorie des Fremden von Waldenfels.

Zusammenfassung der Folge mit GPT

In der Podcast-Folge 163 diskutieren Dean und der Moderator anhand des narrativen Interviews FR436 die biographische Erfahrung einer Mutter („Maria“) im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus bei ihrem Sohn („Timo“). Die Reflexion erfolgt im Rahmen der anthropologischen Bildungsforschung und integriert zentrale theoretische Bezugspunkte: die Theorie der transformatorischen Bildung (Kokemohr/Koller), die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Subjekt, Kultur, Grenzen) sowie den Begriff der Performativität und Normativität der biografischen Erzählung. Ergänzend wird die Theorie des Fremden von Bernhard Waldenfels zur Analyse herangezogen.

Das Gespräch beginnt mit einer methodischen Einordnung der anthropologischen Bildungsforschung. Transformation wird dabei als eine Umgestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses verstanden, die in krisenhaften Situationen erfolgt und sich sprachlich unter anderem durch rhetorische Figuren ausdrückt. Im Zentrum des Interviews steht eine tiefgreifende Fremdheitserfahrung: Die Mutter, die bereits ein älteres Kind hat, erlebt den jüngeren Sohn als „anders“, als nicht einfügbar in ihre bisherigen pädagogischen und normativen Vorstellungen von Entwicklung. Diese Andersartigkeit manifestiert sich früh: Timo zeigt Rückzugstendenzen, sprachliche Stagnation und eine hohe Lärmempfindlichkeit. Die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ markiert in dieser Hinsicht nicht nur eine medizinische Kategorie, sondern auch eine symbolische Schwelle – eine sprachliche Form, das Fremde überhaupt erst zu benennen.

Das Interview zeichnet die Transformation der Mutter nach: von einer Phase der emotionalen Erschütterung, Trauer und Angst hin zu einem aktiven, lernenden und suchenden Subjekt, das sich Wissen aneignet, Netzwerke erschließt und Handlungsräume eröffnet. Die Praxis steht hierbei im Mittelpunkt. Die Mutter organisiert Fördermaßnahmen, sucht geeignete Schulformen, koordiniert Unterstützungsstrukturen (u.a. durch einen langfristig konstanten Integrationshelfer) und verhandelt gesellschaftliche Teilhabe für ihren Sohn. Dabei wird deutlich, dass Bildung hier nicht primär durch Reflexion im engeren Sinne erfolgt, sondern durch das tätige und fürsorgliche Eingreifen in konkrete Lebensverhältnisse – eine performative Praxis, die zugleich emotionale und kognitive Verarbeitungsprozesse trägt.

In der Reflexion über das Interview wird deutlich, dass die Fremdheit nicht verschwindet, sondern bleibt – wie es Waldenfels beschreibt – als ein „Antwortverlangen“ des Anderen, das nie vollständig eingelöst werden kann. Auch nach vielen Jahren bleibt bei der Mutter eine grundlegende Ungewissheit über die Zukunft ihres Sohnes bestehen. Doch im Verlauf des Interviews zeigt sich eine Verschiebung der Perspektive: Die Fremdheit wird nicht mehr ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Teil einer existenziellen Aufgabe angenommen. In einem bemerkenswerten Schlussabschnitt deutet die Mutter ihr Handeln theologisch-existenziell um: Vielleicht sei es ihre Aufgabe, diesem Kind zur Seite zu stehen – eine Haltung, die sowohl Haltungskraft als auch Annahme des Nichtverstehbaren ausdrückt.

Die Analyse des Interviews macht sichtbar, wie sich Bildungsprozesse im Alltag von Eltern vollziehen – nicht als idealtypische Fortschrittsgeschichten, sondern als komplexe, oft widersprüchliche Bewegungen zwischen Verunsicherung, Widerstand, Sinnsuche und Engagement. Die anthropologischen Kategorien bieten dabei ein heuristisches Raster, um die Erfahrungen der Mutter als leiblich (Körper), sozial eingebunden (Soziales), räumlich und institutionell verortet (Raum, Kultur), subjektiv transformierend (Subjekt) und normativ verhandelt (Grenzen) zu beschreiben.

Die Folge ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich durch die Perspektive der anthropologischen Bildungsforschung Bildungsprozesse rekonstruieren lassen, die nicht in klassischen Bildungskontexten stattfinden, sondern im biographischen Umgang mit Krise, Sorge und dem Anderen als Fremden.

Transformatorische Bildung – Folge 162 „Zeitbeschleunigung im Profisport mit Rosa und Safranski“

Melani und ich unterhalten uns über ein Interview (FR434) mit einem Profi-Eishockeyspieler, dessen Lebenstraum zerplatzt und der sich ein neues Welt- und Selbstverhältnis aufbauen muss. Dabei beziehen wir uns auf den Soziologen Hartmunt Rosa und den Literaturwissenschafter und Philosophen Rüdiger Safranski. Also Literatur ist besonders relevant:

Rosa, Hartmut (2005) Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Rosa, Hartmut, (2006 ) Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung: Frankfurt am Main: Suhrkamp

Safranki, Rüdiger (2017): Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Fischer Verlag

Schmidt, Tim/Krebs, Moritz/Rader, Timur/Schamel, Liesa/Schulz, Birgit/Zirfas, Jörg (2025): Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung (i.E.)

Zentrales Zitat:

F: Also ja, also mit mir wurden noch zwei andere aussortiert [mh] und die erste Zeit war es vom Kopf her hart, aber beziehungsweise es war generell auch ein bisschen schwierig, weil ich auf einmal so viel Zeit hatte und ich gar nicht wusste, was ich mit dieser Zeit anfangen  soll, (.) weil ich halt, wie gerade eben erwähnt, immer sehr kurze Zeitfenster am Tag hatte, um  irgendwelche Sachen zu machen. [mh] Auf die eine Art und Weise war‘s schön mal nichts zu haben und keine Ahnung, mal den ganzen Tag Netflix zu gucken oder sonst was oder einfach mal zu chillen, (.) aber auf der anderen Seite, war es auch irgendwann langweilig, ich brauchte diese Routine wieder oder hatte wieder Lust auf diese Routine und dieses jeden Tag  (.) zu ackern. /lacht/ [mh] Joa, aber es gibt immer zwei Seiten von der Medaille, weil auf der einen Seite, hatten wir teilweise im Sommer sechs bis acht Wochen Training, also das auch teilweise zwei Mal am Tag und das war halt schon hart, also da hattest du nicht mehr den Sommer. Wir hatten im Sommer- wir hatten das ganze Jahr über Training außer einen Monat und in diesem einen Monat konnten wir in den Urlaub fahren. (.) Urlaub war zum Beispiel auch eine schwierige Sache, weil wir halt immer verpflichtet waren am Training teilzunehmen und an den Spielen teilzunehmen und unser Urlaub halt so geplant werden musste, dass es in diesem einem Monat [mh] vonstatten geht. Dementsprechend hattest du auch keinen wirklichen Sommer, weil im Sommer wurde halt außerhalb des Eises trainiert. (.) Mit Laufen und Krafttraining, das war immer das Schlimmste und dafür bin ich sehr dankbar, dass ich das nicht mehr machen muss, /lacht/ weil das war immer eine Quälerei. (.) Und das dann halt teilweise sechs bis acht Mal die Woche, das war dann schon hart. [mh] Genau, das ist zum Beispiel die eine Sache, die ich nicht vermisse, aber letztendlich wie gesagt, [mh] vor allen Dingen nach der Zeit, (.) kurz nach der Zeit nach dem in aussortiert wurde, (.) war es halt schon irgendwie schwierig einen Alltag zu finden, weil man halt so viel Zeit hatte und ichdamit gar nicht klar kam und gefühlt nichts gemacht habe und die Tage nicht rum gingen, weil  wie gesagt kein Alltag da war. (FR434, Z. 123-147)

 

Zusammenfassung der Podcast-Folge 162

Die 162. Folge des Podcasts Transformatorische Bildung beschäftigt sich mit der biografischen Erschütterung eines jungen Eishockeyspielers, dessen Lebenstraum, Profi zu werden, an der Schwelle zur Professionalisierung zerbricht. Im Mittelpunkt der Reflexion stehen Fragen nach Zeit, Veränderung und Bildung – analysiert im Licht der anthropologischen Bildungsforschung, insbesondere anhand der anthropologischen Kategorien, der Trias Emotion–Praxis–Theorie sowie dem Konzept der Performativität.


1. Zeit als Bildungsherausforderung

Wie ein roter Faden durchzieht das Thema Zeit die gesamte Episode. Es wird unterschieden zwischen:

  • Beschleunigter Weltzeit (nach Hartmut Rosa): Die Jugend des Sportlers ist strukturiert durch ein straffes Regiment von Schule, Training und Schlaf – ohne Eigenzeit, ohne Pausen, ohne Aneignung der Welt.

  • Eigenzeit (nach Safranski): Der Bruch eröffnet erstmals Zeiträume ohne Struktur, zunächst desorientierend, dann zunehmend produktiv.

  • Narrative Zeit (nach Ricoeur): Die Erzählung selbst wird zum Medium, das objektive und subjektive Zeitdimensionen vermittelt.


2. Bildung durch Krise: Emotion, Praxis, Theorie

Der Bildungsprozess verläuft entlang einer biografischen Erschütterung und kann durch die Trias Emotion – Praxis – Theorie beschrieben werden:

  • Emotion: Begeisterung für den Sport – Schock des Ausschlusses – Enttäuschung – Neugier – Freude am Neuen.

  • Praxis: Disziplin im Training – Kontrollverlust – Neuanfang mit Alltagspraktiken (Freundschaften, Freizeitgestaltung, Reflexion).

  • Theorie/Reflexion: Retrospektive Einordnung der Sportzeit als Ressource – Aneignung von Disziplin, Selbstkenntnis, Akzeptanz.


3. Anthropologische Kategorien im Interview

Die Moderator:innen greifen systematisch die sieben anthropologischen Kategorien auf, die für die Analyse biografischer Transformationen leitend sind:

a) Körper

Der Körper des jungen Mannes ist Ort von Disziplin und Überforderung. Die körperliche Belastung im Training, besonders im Sommer, wird rückblickend als „Quälerei“ beschrieben. Erst nach dem Bruch tritt ein neues Verhältnis zum Körper ein: Ruhe, Entspannung, Regeneration werden möglich.

b) Soziales

Der Verein fungiert als „Familie“, die soziale Identität stiftet. Nach dem Ausschluss wird diese soziale Ordnung obsolet. In der Krise gewinnt der Interviewte neue soziale Beziehungen – Freunde, Partys, Gespräche – und öffnet sich für neue soziale Resonanzräume.

c) Raum

Der biografische Raum ist zunächst eingeengt: Schule – Sporthalle – Bett. Erst nach dem Scheitern öffnet sich der Raum: neue Orte werden erkundet, Freizeit wird als räumliche Möglichkeit neu erfahren.

d) Zeit

Die zentrale Kategorie: Der junge Mann erfährt eine Transformation vom Leben in der Weltzeit zur Gestaltung von Eigenzeit. Die Leere nach dem Karriereende wird zur Schwelle eines neuen Zeitbewusstseins.

e) Kultur

Die Kultur des Leistungssports prägt das frühe Selbstbild: Erfolg, Disziplin, Effizienz. Nach dem Bruch entsteht ein kultureller Wandel: Es wird möglich, Genuss, Muße und Kontemplation in das Leben zu integrieren.

f) Subjekt

Der Interviewte wird vom Sportler-Subjekt – diszipliniert, funktional, zielgerichtet – zu einem reflektierenden, freien, emotional offenen Subjekt, das seine Geschichte erzählt, sich selbst als Akteur erkennt und Verantwortung übernimmt.

g) Grenzen

Zentrale Grenzerfahrung ist das Ausscheiden aus dem Kader – eine biografische „Grenze“, die zur Neuverhandlung des Selbst führt. Weitere Grenzen zeigen sich in körperlicher Erschöpfung, sozialer Isolation und dem Verlust von Orientierung, die durch neue Übergänge (Freundschaft, Reflexion) überschritten werden.


4. Performativität: Zeit verkörpern, Bildung erzählen

Im Schlussteil wird ein neuer Aspekt zentral: die performative Dimension des Interviews. Es wird deutlich, dass Bildung nicht nur durch Inhalt geschieht, sondern durch die Art der Erzählung selbst. Die Sprecher:innen reflektieren, dass Resonanz – im Sinne Rosas – nicht nur thematisiert, sondern im Gespräch selbst performativ hergestellt wird.

Zentrale Aspekte performativer Bildung in diesem Kontext:

  • Erzählung als Transformation: Der Interviewte vollzieht im Sprechen eine Form der Selbstbildung, indem er sich seine Geschichte rückblickend aneignet.

  • Zeitlichkeit als Form: Die zeitlichen Verschiebungen – Stillstand, Dehnung, Verdichtung – werden nicht nur beschrieben, sondern verkörpert.

  • Affekt und Sprache: In der Art der Rede (Metaphern, Betonung, Zögern) manifestieren sich nicht nur Gedanken, sondern Haltungen und Weltverhältnisse.

  • Resonanz im Gespräch: Die Resonanz zwischen Interviewten und Zuhörenden, zwischen Sprecher:in und Moderator:in, zwischen Text und Theorie – sie geschieht zwischen den Akteur:innen, nicht in ihnen. Das Gespräch selbst wird zum Bildungsakt.


5. Fazit: Zeit als Bildungsfigur

Die Folge illustriert exemplarisch, wie Zeit zur zentralen Bildungsfigur wird: Zeit als Mangel, Zeit als Überfluss, Zeit als Aneignung. Die biografische Transformation des jungen Mannes ist nicht linear, sondern rhythmisch: geprägt von Brüchen, Umwegen und Resonanzmomenten.

Transformatorische Bildung – Folge 161 „Auf der Suche nach der eigenen Geschechtsidentität“

Laura und ich unterhalten uns über ein narratives Interview (FR449), indem Lea* ihre Transition vom Jungen zur Frau beschreibt. Wir gehen auf die Theorie von Judith Butler ein und besprechen dann die zentralen Aspekte der anthropologischen Bildungsforschung von Transformatorischer Bildung, der Trias von Emotion, Praxis und Theorie, den anthropologischen Kategorien Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen und der Performativität.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Laura zur Interviewanalyse FR449 (GPT)

In dieser Folge des Podcasts Transformatorische Bildung sprechen Tim und Laura über das narrative Interview FR449, in dem die junge Frau Lea* ihre Transition vom als Junge geborenen Kind zur Frau reflektiert. Das Gespräch entfaltet sich entlang zentraler theoretischer Linien – insbesondere Judith Butlers Theorie der Performativität und Anrufung sowie der anthropologischen Bildungsforschung, die auf Konzepte transformatorischer Bildung, rhetorische Figuren, die Trias Emotion–Praxis–Theorie und anthropologische Kategorien zurückgreift.

Einführung in das Interview und thematische Rahmung

Laura berichtet, wie ihre Gruppe sich für das Interview mit Lea* entschied – einer jungen Frau, die sich im Alter von etwa 19 Jahren als trans erkannt und geoutet hat. Die Wahl fiel auf diese biografische Erzählung, da sie einerseits eine starke Transformationsgeschichte darstellt und andererseits gesellschaftlich hochrelevant ist. Im Zentrum steht Leas Selbsterkenntnis, dass ihr bei der Geburt zugewiesenes männliches Geschlecht nicht mit ihrem erlebten Selbst übereinstimmt. Im Interview schildert Lea* ihre Kindheit, erste Irritationen während der Pubertät, das Aufkommen einer tiefen Verstimmung in der Corona-Zeit und schließlich das konversionsartige Moment während eines Urlaubs in Italien, in dem ihr klar wird, dass sie trans ist.

Theoretischer Fokus: Judith Butler

Laura betont zwei zentrale Begriffe bei Judith Butler: Anrufung (interpellation) und Performativität. Die Anrufung durch soziale Instanzen – ob negativ durch Fremde oder positiv durch Freunde und Familie – formt die Identität der interviewten Person maßgeblich. Die Theorie der Performativität zeigt sich etwa in Leas frühzeitiger, aktive Festlegung auf Pronomen („she/her“) und in ihrem Verhalten (Kleidung, Körpersprache), das ihre Geschlechtsidentität performativ herstellt.

Tim ergänzt diese Aspekte durch eine prägnante Darstellung der Sprechakttheorie (Austin) und erläutert, wie Butler diese erweitert, indem sie zeigt, dass Geschlecht durch performative Akte – wie die Geburtsausrufung „Es ist ein Mädchen!“ – diskursiv erzeugt wird. Eine kritische Diskussion entsteht über Butlers Infragestellung des biologischen Geschlechts (Sex). Während Laura hier gewisse Verständnisschwierigkeiten äußert, wird im Gespräch deutlich, dass Butler die Kategorie „Sex“ nicht leugnet, sondern deren kulturelle Konstruktion betont.

Transformatorische Bildung

Im weiteren Verlauf erläutert Laura, wie sich die Transition von Lea* im Sinne der transformatorischen Bildung (Koller/Kokemohr) verstehen lässt. Leas Krise während der Pandemie – die depressive Verstimmung und Identitätsverunsicherung – wird als Bruch im bisherigen Welt- und Selbstverhältnis interpretiert. Die metaphorische Wendung „wie ein Phönix aus der Asche“ beschreibt den Übergang in ein neues Verhältnis zu sich selbst. Diese bildhafte Sprache ist Ausdruck einer gelungenen biografischen Transformation.

Trias: Emotion – Praxis – Theorie

Die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie, wie sie in der anthropologischen Bildungsforschung entwickelt wurde, strukturiert die Analyse des Interviews:

  • Emotion: Leas frühes Unwohlsein, depressive Symptome, Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.

  • Praxis: Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, das Coming-out, die Inanspruchnahme von Hormontherapie.

  • Theorie: Die bewusste Einordnung des Erlebten unter der Kategorie Transidentität.

Diese Dreigliederung erlaubt eine dichte Beschreibung des Bildungsprozesses auf verschiedenen Ebenen.

Anthropologische Kategorien

Laura benennt die sieben Kategorien nach Wulf/Zirfas (2014) „Handbuch der pädagogischen Anthropologie“: Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Soziales und Grenzen. Sie zeigt auf, wie Leas Erzählung durch diese Dimensionen strukturiert ist:

  • Körper: Der zentrale Ort der Entfremdung und später der Angleichung.

  • Raum: Öffentliche Orte wie Toiletten oder Züge, in denen sie Diskriminierung erlebt.

  • Zeit: Die Corona-Pandemie als transformatorischer Möglichkeitsraum.

  • Subjekt: Die Selbstbeschreibung und performative Festlegung als Frau.

  • Soziales: Die stark unterstützende Rolle von Familie, Freund:innen und Universität.

  • Kultur: Die gesellschaftliche Reaktion auf Transidentität und deren Wandel.

  • Grenzen: Die administrativen Hürden bei der Änderung von Ausweisdokumenten sowie symbolische Grenzüberschreitungen in Geschlechterfragen.

Schlussbetrachtung

Am Ende betont Laura nochmals den Appell von Lea* an die Gesellschaft: mehr Akzeptanz, niedrigere institutionelle Hürden und ein inklusiverer Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt. Das Interview wird als Beispiel eines gelungenen Bildungsprozesses gelesen, in dem eine Person über Sprache, soziale Anerkennung und individuelle Praxis ein neues Welt- und Selbstverhältnis formt. Die performative Kraft der Erzählung selbst wird als Teil dieses Prozesses verstanden.