Transformatorische Bildung – Folge 158 „Die Geschichte einer Aussteigerin: Leben in den Bäumen“

Im Anschluss an die letzte Episode geht es wieder um die Geschichte einer Aussteigerin. Linnea und ich diskutieren, wie sich das Leben in den Baumhäusern im Hambacher Forst gestaltet (FR422). Wir benutzen die Transformatorische Bildung nach Kokemohr und  Koller sowie die Pädagogische Anthropologie nach Wulf und Zirfas. Dabei hat sich in der Analyse der anthropologischen Kategorien herausgestellt, dass sich in diesem Interview die Erfahrungen entweder in der Kategorie des Körpers und des Raumes oder im Sozialen bündelt. Zudem diskutieren wir den Prozess vor der Trias: Emotion, Praxis und Theorie. Zum Schluss stellen wir kurze Überlegungen dazu an, wie sich das Performative und Imaginäre in den Interviews zeigt und wie sich die Erzählung oder Plot in einem Film gestalten lassen würde.

 

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Linnea über das Interview FR422 („Leben im Hambacher Forst“) – Folge 158 GPT

In dieser Folge analysieren Tim und Linnea das narrative Interview FR422 mit einer Frau, die über ihr Leben als Aktivistin in den Baumhäusern des Hambacher Forsts berichtet. Die Erzählung wird aus der Perspektive transformatorischer Bildung (Kokemohr, Koller) sowie der pädagogischen Anthropologie (Wulf, Zirfas) gedeutet. Die Folge schließt an frühere Episoden über biografische Ausstiege aus etablierten gesellschaftlichen Ordnungen an und thematisiert erneut den Zusammenhang von Umweltengagement, Körpererfahrung, Raumaneignung und Weltdeutung.

1. Theoretischer Rahmen und Analyseperspektive

Im Zentrum steht die Frage, wie Bildung im Sinne einer Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses in der biografischen Erzählung sichtbar wird. Die Analyse orientiert sich am Konzept der Fremdheitserfahrung (Waldenfels), der Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas et al.) sowie an den anthropologischen Kategorien (Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt, Grenzen).

Ein besonderer Fokus liegt auf dem Vorgang vor der Trias – also jenen unreflektierten, leiblich-emotionalen Bewegungen, die Bildungsprozesse erst in Gang setzen, aber (noch) nicht in bewusste Praktiken oder Theorien überführt sind. Zudem werden abschließend Aspekte der Performativität und Imaginierung alternativer Lebensformen besprochen.

2. Biografischer Hintergrund: Leben im Widerstand

Die Interviewpartnerin erzählt von ihrem entschiedenen Ausstieg aus dem bisherigen bürgerlichen Leben und ihrem Einzug in die Baumhaus-Siedlungen des Hambacher Forsts. Die Entscheidung ist nicht bloß rational oder politisch motiviert, sondern zutiefst leiblich und emotional verwurzelt. Der Wald wird als Raum des Widerstands und der Lebendigkeit beschrieben, das Baumhaus als Ort eines neuen, direkten Weltbezugs – jenseits konsumistischer Routinen.

3. Anthropologische Kategorien: Bündelung von Körper–Raum und Sozialem

In der Analyse zeigt sich, dass sich die Erfahrungen der Erzählerin in zwei zentralen Bündelungskategorien kristallisieren:

  • Körper und Raum: Das Leben in der Baumkrone erfordert körperliche Präsenz, Mut, Verletzlichkeit. Die körperliche Erfahrung des Waldes – Wind, Kälte, Höhe – verbindet sich mit einem neuen Raumverhältnis: Der Wald wird nicht mehr als Naturkulisse erlebt, sondern als erlebter Widerstandsort. Die Bäume sind nicht nur Umgebung, sondern Teil einer symbiotischen Beziehung.

  • Soziales: Die interviewte Person erfährt im Kollektiv der Waldbesetzer:innen ein neues soziales Miteinander – geprägt von Solidarität, Konflikten, geteilten Utopien. Gemeinschaft wird nicht vorausgesetzt, sondern tagtäglich neu ausgehandelt. Diese soziale Praxis steht im Kontrast zur funktionalen Vereinzelung der urbanen Gesellschaft.

Die übrigen Kategorien (z. B. Zeit, Kultur, Grenzen, Subjekt) erscheinen weniger als eigenständige Achsen, sondern sind in den beiden dominanten Dimensionen mitenthalten – z. B. als geteilte temporale Rhythmen oder kulturelle Praktiken des Widerstands.

4. Bewegung zur Trias: Emotion, Praxis, Theorie

Die Analyse legt besonderen Wert auf das, was vor der Trias liegt: Die unbestimmten Impulse, Affekte, Unruhen, die das Bedürfnis nach Veränderung wecken, aber noch nicht sprachlich oder theoretisch greifbar sind. Die Erzählerin beschreibt Momente des „Nicht-mehr-Könnens“ und des „Sich-Rufen-Lassens“, die sich erst im Vollzug des Ausstiegs konkretisieren.

  • Emotion: Erschöpfung und Entfremdung im alten Leben, Faszination und Lebendigkeit im Forst.

  • Praxis: Aufbau der Baumhäuser, kollektive Organisation, direkte Aktion.

  • Theorie: Reflexion über Eigentum, Zerstörung, Nachhaltigkeit, Recht und Gerechtigkeit – oft erst im Nachhinein formuliert.

Diese Bewegung von vordiskursiven Affekten hin zu symbolischer Artikulation ist zentral für den Bildungsbegriff, wie er im Anschluss an Kokemohr verstanden wird.

5. Performativität und Imaginäres

Abschließend diskutieren Tim und Linnea, wie das Leben im Hambacher Forst auch als performative Praxis verstanden werden kann: Die Lebensform selbst ist ein symbolischer Akt, eine Handlung, die gesellschaftliche Ordnungen infrage stellt. Sie erschafft einen alternativen Raum – nicht nur physisch, sondern auch im Imaginären. Der Wald wird so zum Ort der Utopie, zur lebendigen Erzählung eines anderen Lebens.

Die Erzählerin erscheint als Figur einer Heldin, deren Geschichte das Potenzial hat, filmisch erzählt zu werden. Die Narration trägt Züge einer dramatischen Entwicklung: Krise, Aufbruch, Widerstand, Gemeinschaft, Hoffnung. In dieser Struktur spiegelt sich nicht nur ein individuelles Bildungsereignis, sondern auch eine kollektive Imaginationsleistung.