Transformatorische Bildung – Folge 164 „vom Scheitern, vom Leid zum […] Sieg und Erfolg und zum Frieden.“ Erfahrungen mit Makroglossie

Im Gespräch mit Annika unterhalten wir uns über das Interview mit Elias* (FR450). Zentral ist eine Makroglossie, eine Vergrößerung seiner Zunge, die zu verschiedenen Erfahrungen mit Ausgrenzung führt.

Zunächst besprechen wir die vier Bausteine der anthropologischen Bildungsforschung.

  1. Transformatorische Bildung nach Kokemohr und Koller.
  2. Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas.
  3. Die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen).
  4. Die Frage nach Performativität und Normativität.

Der Bezugstheorie ist das Modell der Anrufung und Resignifizierung nach Butler.

Zusammenfassung GPT.

00:00–00:03: Vorstellung und thematische Einleitung

In dieser Folge des Podcasts „Transformatorische Bildung“ spricht Tim mit der Studentin Annika über ein Interview mit Elias*, einem jungen Mann mit Makroglossie. Die Episode beginnt mit einem kurzen persönlichen Einstieg, in dem Annika von ihrem Studium berichtet – sie studiert Grundschullehramt in Köln, hat aber zuvor bereits ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen. Die Gesprächspartner*innen leiten dann über zur zentralen Fragestellung der Folge: Wie kann die biografische Erzählung von Elias, der mit einer stark vergrößerten Zunge lebt, im Rahmen der anthropologischen Bildungsforschung interpretiert werden?


00:03–00:09: Die vier Bausteine der anthropologischen Bildungsforschung

Tim führt in die vier konzeptionellen Bausteine der Analyse ein: (1) die Theorie der transformatorischen Bildung nach Kokemohr und Koller, (2) die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas, (3) die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen), sowie (4) die Frage nach der Performativität und Normativität der Erzählung. Diese Struktur bildet das methodologische Rückgrat der Interviewanalyse.


00:09–00:13: Transformatorische Bildung und rhetorische Figuren

Annika erläutert, wie sie den Begriff der Bildung im transformatorischen Sinne verstanden hat: als tiefgreifende Veränderung grundlegender Welt- und Selbstverhältnisse, erkennbar in sprachlich-rhetorischen Figuren wie Metaphern, Vergleichen und wiederkehrenden Motiven. Diese Figuren erlauben eine Analyse der symbolischen Selbstverortung im Weltbezug. Das Interview mit Elias wird dabei als Zeugnis eines solchen Bildungsprozesses verstanden.


00:13–00:18: Trias von Emotion, Praxis und Theorie

Anschließend wird die Trias (Emotion, Praxis, Theorie) als Strukturierungshilfe erläutert. Annika hebt hervor, dass Elias’ Erzählung nicht in einer linearen Logik dieser drei Phasen verläuft, sondern dass Emotion und Praxis eng verwoben sind. Seine Theorie, also die Bedeutung, die er seinem Lebensweg retrospektiv zuschreibt, lässt sich dennoch rekonstruieren: ein affirmativer Umgang mit erlittenem Schmerz, Krankheit und sozialer Ausgrenzung.


00:18–00:25: Anthropologische Kategorien und ihre heuristische Funktion

Die sieben anthropologischen Kategorien geben laut Annika Orientierung, um das Interview auf wiederkehrende Dimensionen menschlicher Existenz hin zu analysieren. Besonders die Kategorien „Körper“ und „Grenzen“ sind in Elias’ Fall zentral: Sein Körper wird permanent markiert, bewertet und als „abweichend“ klassifiziert. Auch kulturelle und soziale Kontexte werden sichtbar – etwa die schulische Institution als Raum normativer Ordnung.


00:25–00:34: Biografische Kernerinnerung als Szene der Anrufung

Ein zentrales Element des Gesprächs ist die sogenannte „Anrufung“, wie sie bei Judith Butler beschrieben wird. Elias erinnert sich an eine Szene im Kindesalter: Ein älterer Mann streckt ihm auf der Straße die Zunge heraus – eine symbolische Geste der Demütigung, die Elias tief geprägt hat. Diese Szene wird als performative Anrufung gedeutet, durch die Elias als „anders“ oder „abweichend“ adressiert wird – ein Akt, der seine Subjektivierung innerhalb gesellschaftlicher Normen beeinflusst.


00:34–00:43: Schule als Ort der Normalisierung und Widerstand

Eine weitere Szene betrifft ein Gespräch mit einer Schulleiterin, die Elias aufgrund seiner äußeren Erscheinung den Besuch einer Förderschule nahelegt. Die Mutter widersetzt sich dieser Anrufung und verteidigt die Normalität ihres Sohnes. Diese Szene wird als Beispiel einer Resignifizierung gedeutet: Eine normativ ausgrenzende Anrufung wird nicht einfach angenommen, sondern aktiv umgewendet. Elias und seine Mutter beanspruchen eine andere Lesart seiner Subjektivität – jenseits der Pathologisierung.


00:43–00:49: Vulnerabilität und Prekarität nach Butler und Dederich

Im Anschluss werden Butlers Begriffe der Verletzlichkeit und Prekarität mit Markus Dederichs Konzept der körperbezogenen Vulnerabilität verknüpft. Elias’ Körper wird von außen als „abweichend“ markiert – dies erhöht die Wahrscheinlichkeit für Verletzungen im sozialen Raum. Die Szene mit der Zungengeste fungiert dabei als emblematische Chiffre für diese gesellschaftliche Herstellung von Prekarität und Exklusion.


00:49–Ende: Performativität und die transformative Kraft der Erzählung

Gegen Ende reflektieren Tim und Annika über die performative Dimension des Interviews selbst. Elias formuliert seine Geschichte nicht als Opfernarrativ, sondern betont am Ende seine Dankbarkeit und seinen Stolz. Dies lässt sich als eine Form von aktiver Resignifizierung begreifen: Die Narrative wirkt nicht nur retrospektiv erklärend, sondern auch prospektiv identitätsbildend. Die performative Kraft der Erzählung besteht gerade darin, neue Handlungsspielräume im Diskurs zu eröffnen.

 

Transformatorische Bildung – Folge 161 „Auf der Suche nach der eigenen Geschechtsidentität“

Laura und ich unterhalten uns über ein narratives Interview (FR449), indem Lea* ihre Transition vom Jungen zur Frau beschreibt. Wir gehen auf die Theorie von Judith Butler ein und besprechen dann die zentralen Aspekte der anthropologischen Bildungsforschung von Transformatorischer Bildung, der Trias von Emotion, Praxis und Theorie, den anthropologischen Kategorien Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen und der Performativität.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Laura zur Interviewanalyse FR449 (GPT)

In dieser Folge des Podcasts Transformatorische Bildung sprechen Tim und Laura über das narrative Interview FR449, in dem die junge Frau Lea* ihre Transition vom als Junge geborenen Kind zur Frau reflektiert. Das Gespräch entfaltet sich entlang zentraler theoretischer Linien – insbesondere Judith Butlers Theorie der Performativität und Anrufung sowie der anthropologischen Bildungsforschung, die auf Konzepte transformatorischer Bildung, rhetorische Figuren, die Trias Emotion–Praxis–Theorie und anthropologische Kategorien zurückgreift.

Einführung in das Interview und thematische Rahmung

Laura berichtet, wie ihre Gruppe sich für das Interview mit Lea* entschied – einer jungen Frau, die sich im Alter von etwa 19 Jahren als trans erkannt und geoutet hat. Die Wahl fiel auf diese biografische Erzählung, da sie einerseits eine starke Transformationsgeschichte darstellt und andererseits gesellschaftlich hochrelevant ist. Im Zentrum steht Leas Selbsterkenntnis, dass ihr bei der Geburt zugewiesenes männliches Geschlecht nicht mit ihrem erlebten Selbst übereinstimmt. Im Interview schildert Lea* ihre Kindheit, erste Irritationen während der Pubertät, das Aufkommen einer tiefen Verstimmung in der Corona-Zeit und schließlich das konversionsartige Moment während eines Urlaubs in Italien, in dem ihr klar wird, dass sie trans ist.

Theoretischer Fokus: Judith Butler

Laura betont zwei zentrale Begriffe bei Judith Butler: Anrufung (interpellation) und Performativität. Die Anrufung durch soziale Instanzen – ob negativ durch Fremde oder positiv durch Freunde und Familie – formt die Identität der interviewten Person maßgeblich. Die Theorie der Performativität zeigt sich etwa in Leas frühzeitiger, aktive Festlegung auf Pronomen („she/her“) und in ihrem Verhalten (Kleidung, Körpersprache), das ihre Geschlechtsidentität performativ herstellt.

Tim ergänzt diese Aspekte durch eine prägnante Darstellung der Sprechakttheorie (Austin) und erläutert, wie Butler diese erweitert, indem sie zeigt, dass Geschlecht durch performative Akte – wie die Geburtsausrufung „Es ist ein Mädchen!“ – diskursiv erzeugt wird. Eine kritische Diskussion entsteht über Butlers Infragestellung des biologischen Geschlechts (Sex). Während Laura hier gewisse Verständnisschwierigkeiten äußert, wird im Gespräch deutlich, dass Butler die Kategorie „Sex“ nicht leugnet, sondern deren kulturelle Konstruktion betont.

Transformatorische Bildung

Im weiteren Verlauf erläutert Laura, wie sich die Transition von Lea* im Sinne der transformatorischen Bildung (Koller/Kokemohr) verstehen lässt. Leas Krise während der Pandemie – die depressive Verstimmung und Identitätsverunsicherung – wird als Bruch im bisherigen Welt- und Selbstverhältnis interpretiert. Die metaphorische Wendung „wie ein Phönix aus der Asche“ beschreibt den Übergang in ein neues Verhältnis zu sich selbst. Diese bildhafte Sprache ist Ausdruck einer gelungenen biografischen Transformation.

Trias: Emotion – Praxis – Theorie

Die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie, wie sie in der anthropologischen Bildungsforschung entwickelt wurde, strukturiert die Analyse des Interviews:

  • Emotion: Leas frühes Unwohlsein, depressive Symptome, Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.

  • Praxis: Die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, das Coming-out, die Inanspruchnahme von Hormontherapie.

  • Theorie: Die bewusste Einordnung des Erlebten unter der Kategorie Transidentität.

Diese Dreigliederung erlaubt eine dichte Beschreibung des Bildungsprozesses auf verschiedenen Ebenen.

Anthropologische Kategorien

Laura benennt die sieben Kategorien nach Wulf/Zirfas (2014) „Handbuch der pädagogischen Anthropologie“: Körper, Subjekt, Raum, Zeit, Kultur, Soziales und Grenzen. Sie zeigt auf, wie Leas Erzählung durch diese Dimensionen strukturiert ist:

  • Körper: Der zentrale Ort der Entfremdung und später der Angleichung.

  • Raum: Öffentliche Orte wie Toiletten oder Züge, in denen sie Diskriminierung erlebt.

  • Zeit: Die Corona-Pandemie als transformatorischer Möglichkeitsraum.

  • Subjekt: Die Selbstbeschreibung und performative Festlegung als Frau.

  • Soziales: Die stark unterstützende Rolle von Familie, Freund:innen und Universität.

  • Kultur: Die gesellschaftliche Reaktion auf Transidentität und deren Wandel.

  • Grenzen: Die administrativen Hürden bei der Änderung von Ausweisdokumenten sowie symbolische Grenzüberschreitungen in Geschlechterfragen.

Schlussbetrachtung

Am Ende betont Laura nochmals den Appell von Lea* an die Gesellschaft: mehr Akzeptanz, niedrigere institutionelle Hürden und ein inklusiverer Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt. Das Interview wird als Beispiel eines gelungenen Bildungsprozesses gelesen, in dem eine Person über Sprache, soziale Anerkennung und individuelle Praxis ein neues Welt- und Selbstverhältnis formt. Die performative Kraft der Erzählung selbst wird als Teil dieses Prozesses verstanden.


Transformatorische Bildung – Folge 157 „Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte“

Carina, Ben und ich unterhalten uns über das narrative Interview mit Anna* (FR413). Sie beschreibt ihren Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte, einem mongolischen Zelt. Vergleich: Wikipedia zur Jurte.
Zu Anfang besprechen wir drei theoretische Herangehensweise an das empirische Material: die transformatorische Bildung nach Koller mit der Analyse rhetorischer Figuren. Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas. Und zum Schluss die anthropologischen Kategorien von Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen.
Wir gehen in den darauffolgenden Analyse einzelner Textteile vom Diachronen zum Synchronen vor und besprechen den Verlauf des Interviews mit der Transformationstheorie und der Trias. Als theoretische Referenzen verwenden wir die Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels und das Register des Imaginären und den Prozess der Identifikation nach Lacan. An manchen Stellen zeigen sich auch Anrufungen als “zu junge Mutter” im Sinne von Butlers. Nach dem Durchgang der einzelnen Sequenzen aus dem Interview versuchen wir, die Verlaufsform des Interviews zu bestimmen. Am Ende der Analyse sammeln wir die anthropologischen Kategorien ein, die sich im Aspekt des Raumes bündeln und alle Kategorien verknüpfen. Zum Schluss gehen wir die Performativität der Erzählung in Bezug auf das Buch Erzählende Affen durch und versuchen zu beschreiben, welche Gattung das Interview als Buch oder Film figuriert. Eine Idee war sich zu fragen, welche Ähnlichkeiten und unterschiede die Narration zum klassischen Bildungsroman hätte, zum Beispiel zu Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Carina und Ben über das Interview FR413 – Folge 157 (GPT)

In dieser Folge analysieren Tim, Carina und Ben das narrative Interview FR413 mit Anna*, die von ihrem biografischen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen erzählt. Im Zentrum steht ihre Entscheidung, aus einem als beengend empfundenen bürgerlichen Leben auszubrechen und ein Leben in einer Jurte zu beginnen – einem mobilen, traditionellen Zelt aus der mongolischen Nomadenkultur. Die Erzählung wird aus drei ineinandergreifenden Perspektiven interpretiert: Transformatorische Bildung nach Koller, Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), sowie den anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas. Ergänzt wird die Analyse durch die Phänomenologie des Fremden (Waldenfels), Butlers Theorie der Anrufung und Lacans Konzept der Identifikation.


1. Theoretische Rahmung und Methodik

Tim führt zu Beginn des Gesprächs in die drei zentralen methodologischen Ebenen ein:

  • Transformatorische Bildung als Veränderung grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses, ausgelöst durch Fremdheitserfahrungen, sprachlich greifbar in Metaphern, Antithesen und symbolischen Brüchen.

  • Trias Emotion – Praxis – Theorie, die den Bildungsprozess auf leiblich-emotionaler, handelnder und reflexiver Ebene strukturiert.

  • Anthropologische Kategorien wie Körper, Raum, Soziales, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen, anhand derer Bildungsprozesse in ihrer leiblich-symbolischen und sozialen Verankerung analysiert werden können.

Diese Trias bildet den methodischen Leitfaden für die diachrone Analyse einzelner Sequenzen aus dem Interview.


2. Der „Käfig der Normalität“ – Metaphorische Figuration und erste Fremdheitserfahrung

Zu Beginn schildert Anna ihre Kindheit als „behütet“, jedoch geprägt von Langeweile, innerer Leere und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. In der Jugend wächst der Wunsch, „alles anders“ zu machen als ihre Eltern. Der zentrale Ausdruck dieser Phase ist die Metapher des „Käfigs“, der sowohl als rhetorische Figur als auch als anthropologische Kategorie (Raum, Körper, Grenze) interpretiert wird.

Die Antithese „Käfig – Freiheit“ markiert die Spannung zwischen altem und ersehntem Weltverhältnis. Diese metaphorische Opposition wird zum Ausgangspunkt eines transformatorischen Begehrens, das sowohl emotionale Antriebskraft als auch imaginäre Zukunftsprojektion enthält.


3. Fremdheitserfahrung und Identifikation (Waldenfels / Lacan)

Eine prägende Sequenz der Transformation zeigt sich in der Begegnung mit einem Partner, der ein alternatives Lebensmodell verkörpert: Leben im Wald, Selbstbau eines Hauses, Verzicht auf fließendes Wasser und Heizung. Anna beschreibt diese Lebensweise als „total fremd“ und zugleich faszinierend. Diese Ambivalenz des Fremden (Waldenfels) – als beängstigend und zugleich anziehend – wird als Initiationserfahrung gelesen.

Lacan’s Theorie der Identifikation spielt hier eine zentrale Rolle: Der Partner fungiert als Symbolfigur, mit der sich Anna identifiziert. Die Entscheidung, mit ihm zu leben, markiert einen performativen Akt der Aneignung eines neuen Weltverhältnisses. Dies ist kein rationaler Entschluss, sondern ein tiefgreifender Prozess symbolischer Orientierung und Subjektwerdung.


4. Emotion – Praxis – Theorie (Trias)

Der Bildungsprozess entfaltet sich entlang der drei Dimensionen:

  • Emotion: Gefühle von Enge, Neugier, Faszination, Angst und Erregung.

  • Praxis: Erste konkrete Veränderungen im Lebensstil, etwa das Leben in der Jurte, Holzheizen, Rückzug aus der Konsumgesellschaft.

  • Theorie: Reflexionen über das Schulsystem, Kritik an gesellschaftlichen Normen, Entwicklung alternativer Lebenskonzepte.

Besonders deutlich wird die Verschiebung vom Emotionalen zur Praxis durch die progressive Aneignung der Umwelt: vom symbolischen Käfig zur konkreten Jurte als Ort eines selbstgewählten, freien Lebens.


5. Anthropologische Kategorien: Raum als Verknüpfungsachse

Im synchronen Rückblick auf das gesamte Interview zeigt sich eine Bündelung der anthropologischen Kategorien im Aspekt des Raumes:

  • Raum: Der Wechsel vom normierten Wohnraum zum offenen Lebensraum der Jurte ist Ausdruck eines veränderten Raumverhältnisses.

  • Körper: Körperliche Erfahrungen im Wald (Kälte, Feuerholz, Selbstversorgung) prägen das neue Selbstverhältnis.

  • Soziales: Der Kontakt zu Gleichgesinnten in alternativen Lebensgemeinschaften ersetzt die Normstrukturen des familiären Milieus.

  • Zeit: Der Alltag folgt neuen Rhythmen – naturnah, nicht durch Uhrzeit oder Wochenstruktur determiniert.

  • Kultur: Die Interviewpartnerin eignet sich ein anderes kulturelles Skript an – abseits kapitalistischer Lebensentwürfe.

  • Subjekt: Der Wandel führt zu einem neuen Selbstverständnis, das sich narrativ in der Figur der Aussteigerin artikuliert.

  • Grenzen: Die Grenzziehung gegenüber der „alten Welt“ ist zentral – symbolisch, räumlich, sozial und existenziell.


6. Performativität und Imaginäres – Bildungsroman und Erzählfiguren

Am Ende des Gesprächs diskutieren die drei, inwiefern das Interview als Narration gestaltet ist. Der Bezug auf Die erzählenden Affen (Samira El Ouassil, Friedemann Karig) und der Vergleich mit dem Bildungsroman (z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre) verweisen auf die literarische Struktur der biografischen Erzählung:

  • Eine Heldin verlässt das Bekannte,

  • begegnet dem Fremden,

  • erfährt eine Krise,

  • transformiert ihr Selbstbild,

  • und kehrt mit einer neuen Lebensform zurück (die Jurte als symbolischer Ort des „anderen Lebens“).

Die Performativität liegt nicht nur im gelebten Wandel, sondern auch in der sprachlichen Gestaltung der Erzählung, die neue Wirklichkeiten imaginiert und zugleich Wirklichkeit formt.

 

Transformatorische Bildung – Folge 150 „Ist es nicht wichtig, dass meine Kinder eine schöne Zukunft haben?“ Anrufung und Klimakrise

Frederik und ich unterhalten uns über das Interview mit Sabine* (FR235). Sie ist bei „Fridays for Future“ aktiv und versucht, ihr Leben entsprechend zu gestalten.

Hier ist eine Szene der Anrufung: Bei meinen Eltern natürlich dann (.) die Standardkommentare von (.) du bist so unterernährt ääh weil du vegan bist, weil da kann man natürlich nicht normal Nährstoffe aufnehmen. Ähm auch so Sachen wie du kannst nicht auf Demos gehen, das is Quatsch äh das is gefährlich ääh vor allem in der Pandemie geht das nicht. Das bringt alles nichts, du setzt dich für falsche Sachen ein und äh sowas (.) also von meiner Familie aus jetzt.  (Z. 153 – 158)

Transformatorische Bildung – Folge 147 „Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, also ich bin halt nur klein“

Im Podcast sprechen Maxima und ich über ihre Hausarbeit zum Interview mit Stefan* (FR332). Im Interview berichtet er über Anrufungen als kleinwüchsig und wie er damit umgeht. Folgende Szene analysieren wir ausführlicher:

„[…] [G]erade wo ich noch jünger war, bin ich […] ein Mitläufer, du kommst da hin, wirst grundsätzlich immer unterschätzt. [D]as war natürlich schon so, dass ich im Fußball […] ganz normale Klamotten getragen [habe], also es wurde für mich nicht geändert… Und dann war es mal so, […] ich bin aufs Feld gelaufen, wurde eingewechselt. Dann kam der Ball rein, so und ein Eckball war das tatsächlich […] Und ich stand am zweiten Pfosten, der Ball ist so über alle drüber gesegelt, kam dann zu mir und dann hab ich das Ding halt so mit dem Kopf […] eingenickt und da sind alle ausgerastet und ich glaube die Gegenspieler machen heute noch Straftraining. Also das war echt der absolute Wahnsinn […] und […] ich formuliere das immer […] gerne so, da war ich nicht mehr der Kleinste auf dem Platz, sondern der Größte, weil wie gesagt, leider ist das noch so, aber man wird dann erst richtig wahrgenommen, wenn man das den Leuten beweist […]” (I, Z. 458-479).

Besonders die Kombination aus der Analyse des Interviews und der Untersuchung der Diskurse machen dieses Gespräch interessant und hörenswert.

Transformatorische Bildung – Folge 146 „Leben mit einem behinderten Bruder“

Elisabeth und ich unterhalten uns über ein narratives Interview (FR334), indem eine Frau von ihrem Leben mit einen behinderten Bruder berichtet. Dieser hat Trisomie 21. Wir diskutieren hier die Theorie von Butler in Bezug auf Anrufungen im Kontext von Behinderungen.

Transformatorische Bildung – Folge 145 „Das schwarze Scharf im Boxstall“

Marie und ich unterhalten uns über das Tarik*-Interview (FR351). Es geht mal wieder um die Theorie der Anrufung nach Butler und Widerstandsformen. Interessant an dem Gespräch und dem Interview finde ich, dass hier in einem formalen pädagogischen Setting die Transformation stattfindet, eben in einem Boxstall.

Transformatorische Bildung – Folge 143 „Jetzt geht’s um die Wurst – Anerkennung als Anreiz für einen veganen Lebensstil“

Lina und ich unterhalten sich über ihre Bachelorarbeit mit dem Titel: „Jetzt geht’s um die Wurst – Anerkennung als Anreiz für einen veganen Lebensstil“

Die Bachelorarbeit untersucht die gesellschaftlich relevante Frage, wann Menschen ihr Verhalten ändern oder transformieren. Dieses diskutiert sie anhand der Umstellung auf eine vegane Lebensweise. Dabei stehen die Herausforderungen einer solchen Umstellung von Lebensgewohnheit im Mittelpunkt. Es wird also nicht die ethische Frage diskutiert, ob man eine solche Umstellung vornehmen soll, sondern wann es zu solchen Umstellungen kommt und wie sie sich vollziehen. Um den Anlass solcher Veränderungen genauer fassen zu können, bezieht sie sich auf die Frage, ob Anerkennung ein Begriff sein kann, die diese erfassen kann. Dies ist als Ergänzung zu dem Vorschlag von Koller zu sehen, der den Anlass von Transformationen in Krisen oder Fremdheitserfahrungen sieht. Die Autorin formuliert ihre Forschungsfrage wie folgt: “Das Ziel dieser Arbeit ist es zu analysieren, inwiefern Anerkennung ein Motor für einen transformatorischen Bildungsprozess im Hinblick auf eine vegane Lebensweise sein kann. Der Fokus der Betrachtung liegt dabei auf der Phase der Adoleszenz. Auf dieser Grundlage soll folgende Forschungsfrage beantwortet werden: Inwiefern stellt Anerkennung den Anreiz für einen transformatorischen Bildungsprozess im Hinblick auf einen veganen Lebenswandel dar?”

Zum Schluss wird dann die gesellschaftlich relevante Frage aufgeworfen. So ist bei allen drei Interviewpartner*innen die Anerkennung ein zentrales Motiv. Dies ist aber auch dem Umstand geschuldet, dass die Personen in einem Umfeld leben, in dem diese Lebensweise bereits praktiziert wird. Daraus ergibt sich folgende Frage: “Geht man davon aus, dass eine vegane Lebensumstellung ausschließlich über ein Begehren von Anerkennung innerhalb der Peer Group angestoßen wird, werden sich auch zukünftig eher junge Menschen für eine vegane Lebensweise entscheiden. Zu fragen bleibt daher, wie ein bevölkerungsgruppenübergreifender Wandel in Zukunft angestoßen werden kann.” (S. 42)

Literatur:

Honneth, A. (1994). Kampf um Anerkennung: zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp Verlag.

Strohschein, B. (2022). Abwehr und Anerkennung in der Klimakrise: Wie über Wahrheiten, Fakten und Meinungen kommuniziert wird (1. Aufl.). Springer VS.

Wischmann, A. (2010). Adoleszenz – Bildung – Anerkennung: Adoleszente Bildungsprozesse im Kontext sozialer Benachteiligung (German Edition) (2011. Aufl.). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Transformatorische Bildung – Folge 137 „Die Verletzbarkeit des Menschen“

Mit Mara unterhalte ich mich, über den Bezug von Butler und Foucault zum Thema Rassismus. Wir besprechen dann zwei Szenen aus einem Interview (Fr038). Einen Podcast zu dem Interview gibt es in Folge 31.

„Sie hatte nicht gedacht, ich bin ehm, eine Ausländerin /lacht/ fühle mich garnicht so /lacht/. Da bin ich aus dem Zug ausgestiegen und hatte eine Welthungerhilfe Tasche(?). Sie war da (.) und ich hab ganz genau gewusst, dass ist sie. Und ich hab gewartet bis sie mich anspricht /lacht/. Und sie hat gewartet und ich hab gewartet (.) bis keiner mehr auf dem Gleissteig war, waren wir nur zu zweit. Und ich bin dann in Richtung ehm (2) genau jedenfalls waren wir zu zweit auf dem ehm Bahnsteig(.) sie hat dann nach Rechts und Links geguckt, wo ist denn die Frau? Und ich bin dann halt ein bisschen Richtung (.) ehm (.) Parkplatz gegangen und dann kam sie (?). Dann meinte ich, suchen sie mich(?) Sind sie von der Welthungerhilfe? Ja (.) und dann war sie so ein bisschen positiv Überrascht oder auch negativ keine Ahnung . Jedenfalls war zu sehen, sie hat mich nicht erwartet (3). Ich bins, wir haben telefoniert(?). Achja? Aber das heißt (.) ja keine Ahnung das war /lacht/ kompliziert, aber ich habe mich amüsiert. (2) Ich hab gedacht, sollen wir jetzt gehen (?) /lacht/ Ja sie hatte mich abgeholt (?) und ich dachte du brauchst jetzt gar nicht sauer zu sein. Es ist doch jetzt egal, du musst da durch. Dann bin ich in das Auto eingestiegen (.) die erste Frage war (2) eh sagen sie mir doch nochmal, was sie vortragen wollen(?). Ich sag, das haben wir doch schon geklärt? Wir haben miteinander telefoniert (2), dass was ich ihnen vor einer Woche erzählt habe, werde ich vortragen. (.) und sie machen das? Ich sag ja. (3) Ich mach das und das ist mein Hauptjob. Gut (.) eh, also wir sind überhaupt nicht rassistisch, sagt sie. Wir haben hier /lacht/ wir /lacht/ wir haben hier Flüchtlinge. Ehm die wohnen hier (.) und das blöde war in dieser Stadt (.), dass es wirklich so ne Nazistadt war /lacht/. Das hat sie mir dann alles in dem Auto erzählt (.) da wurden Nazis umgebracht damals. Und dann meint sie zu mir, ehm, ja das war aber damals. Ich kann ihnen aber den Platz zeigen(?). Ich wollte mir aber nicht angucken /lacht/. (3) Eh, aber wir haben Flüchtlinge, die wohnen hier. Ich sag, ich bin aber kein Flüchtling (3) und eh darüber will ich ja gar nicht, eigentlich (.) reden. Wir machen den Vortrag erst (.) und dann können wir danach, ehm, reden und gucken, ob es ihnen gefallen hat (.) Ja das können wir machen, aber ich hab trotzdem noch Fragen(?). Ich sag okay, aber fragen sie doch mal. Also, ehm, also meine Schüler, ich weiß garnicht wie sie damit umgehen werden. Ich sag, womit denn(?). Ja (.) dass sie den Vortrag halten. Ich sag (.) ehm was heißt das (?) ich sag, ehm, mir haben immer Schüler zugehört (.) Und die haben nachgefragt, weil es für sie ein Erlebnis war(?). Weil es für sie total interessant ist, dass ist das Bild was man sich eingeprägt hat von Afrika, nicht immer das wahre Bild ist.“ (Fr038)

Transformatorische Bildung – Folge 120 “Kämpf für dein Reisland” Anrufungen nach Butler

Juli und ich unterhalten sich über ihre Hausarbeit „Theorie der sprachlichen Anrufung nach Judith Butler“. Wir unterhalten uns darin über ein narratives Interview (FR110) mit Luana* über ihre Erfahrungen der Anrufung als „Asiatin“

Figuren der Anrufung: (Zitat)

Okay, dann fang doch jetzt einfach mal an?, chronologisch von deinem Bildungsweg erzählen, von ganz am Anfang bis jetzt. Einfach an alles was du dich erinnerst.

4 L: Okay. Alles was ich mich erinner (?) Ehm (.) also in der Kindergartenzeit (.) [mh] also an meine Kindergartenzeit kann ich mich nicht wirklich so erinnern? aber ehm meine Geschwister waren ja auch auf demselben Kindergarten wie ich und deswegen habe ich auch sehr viel Zeit mit denen dort verbracht und eine richtig gute Freundin hatte ich auch, (.) aber ansonsten is da eigentlich nich so viel passiert, was ich erwähnen könnte? In der Grundschulzeit war ich auch ganz schüchtern, aber ich hatte auch so meine Freunde und meine Schwestern warn ja wie gesagt auch auf derselben Grundschule? (.) und ehm (2) ja. Dann aber auf der weiterführenden Schule ehm (3) war das halt n bisschen anders da is auch ganz viel passiert (.) also da ehm (.) war ich anfangs auch sehr schüchtern ich hatte halt immer eine (.) richtig  gute Freundin und ich hab- war auch mit (.) ehm in Cliquen unterwegs sag ich mal und meine Klasse war eigentlich also meine Klasse war ehm (.) meine klasse war bisschen chaotisch also wir waren dafür bekannt, dass da sehr viel passiert ist, weil da ganz viel Mobbing (.) war und (.) also wir hatten auch sehr viele ehm (.) mussten oft in der Woche auch Gespräche führen und so Kummerkas- so‘n Kummerkasten wurde auch eingeführt, dadurch dass unsere Klasse halt wirklich dafür bekannt war, dass ähm wir so (2) ja, dass viele Schüler einfach ja  ehm gemobbt wurden oder ähm beleidigt wurden einfach wegen der Herkunft oder /holt Luft/ wegen anderen Sachen. Und bei mir war das zum Beispiel so, dass ich ehm es wa- es warnes warn ganz viele ich könnt jetzt mal warte mal so als Beispiel ehm so im Sportunterricht? hatten wir so n Nummernfuß- haben wir so Nummernfußball gespielt und immer wenn ich dann so losgelaufen w- eh bin wurde da immer geschrien Luana renn und kämpf für dein Reisland oder andere Sachen. Und auch im ehm Erdkundeunterricht das weiß ich noch dass ich ehm  jedes Mal wenn das Wort Asien oder China gefallen ist, dann (.) wurde direkt [eh] auf mich geguckt und dann kamen wieder ganz viele Bemerkungen oder Beleidigungen. Und ich wurde auch direk- also es war jetzt nicht so, dass es hinter dem Rücken stattgefunden hat. Also ich wurde auch immer ins Gesicht beleidigt? Und ähm dadurch dass ich so schüchtern war hab ich eigentlich auch nie was gesagt? (.) ehm aber dadurch dass ich ja auch Freunde in meiner Klasse hatten fanden die das auch nicht so schön, cool und ehm ich war aber auch nicht die Einzige also meine beste Freundin kommt aus ehm (.) Sri-Lanka und bei ihr war das genauso. Dadurch, dass die auch dunkelhäutig is, [eh] war das immer so dass wir beide nie was dazu gesagt haben und wenn wir dann beide zusammen unterwegs warn, wurden wir eigentlich dann auf also dadurch, dass wir dann so die Ausländer waren wurden wir dann zusammen eigentlich auch oft beleidigt. Und dann nicht nur von der Klasse, sondern auch wenn wir in der Pause waren und so durch das Gebäude gelaufen sind, kamen eigentlich wirklich oft Beleidigungen. Und sowas wie Ching Chang Chong oder sowas war für mich dann wirklich irgendwann auch täglich (2) fast täglich. Und ehm (.) dann ehm hat meine Klassenlehrerin dann angefangen diese Gespräche zu führen mit der Klasse und dieses diesen Kummerkasten einzuführen und dann wurde das auch (.) angesprochen von meiner Freundin (.) und dann haben wir auch darüber geredet, aber so wirklich geholfen, hab ich, hat das glaub ich nich. Also die haben das zwar aufgehört, aber ehm also es ist auf jeden Fall weniger geworden, aber (.) man wusste ja trotzdem manchmal? (2) [mh]. Also es war halt so, dass die das vielleicht nicht direkt zu mir gesagt haben, aber man hat das halt trotzdem so gehört, wie die da so getuschelt haben. Und (.) bis zur weiterführenden Schule ist es dann langsam weniger geworden, dann aber in der Oberstufe, als dann die E(.)F [äh] EFt die Einführungs-. Wie nennt man das? Die Einführungsstufe? EF?