Transformatorische Bildung – Folge 171 „Der Elementarschutz und die Zigarettenstummel. Umgang mit der Flutkatastrophe in NRW“


In dieser Folge spreche ich mit Mara über zwei sehr unterschiedliche Weisen, auf eine Katastrophe zu antworten – und darüber, was wir aus diesen Kontrasten für eine anthropologische Bildungsforschung lernen können. Der erste Teil der Episode folgt noch einmal der klassischen Struktur unseres Ansatzes: Wir diskutieren die vier Dimensionen – die transformatorische Perspektive mit Bezug auf Bernhard Waldenfels, die Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas 2021), die sieben anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas, sowie Performativität und Normativität als grundlegende Formen menschlicher Selbst- und Weltgestaltung. In dieser theoretischen Rahmung bewegen wir uns dann in die empirische Analyse hinein.

Im Zentrum steht zunächst das Interview mit Peter (FR480). Wir gehen der Frage nach, ob es in seinem Erleben der Flutkatastrophe 2021 zu einem transformatorischen Bildungsprozess gekommen ist. Die Antwort darauf fällt – überraschend und zugleich aufschlussreich – verneinend aus. Peters Erzählung zeichnet sich durch eine konsequente Rationalisierung aus: Er überspringt nahezu alle emotionalen Regungen, geht unmittelbar in die Praxis des Bewältigens über, ordnet, strukturiert, organisiert. Nichts wird zu schwer, nichts zu groß; vielmehr erscheint alles als technische Aufgabe, die gelöst werden kann. Die Katastrophe wird nicht zum Bruch im Welt- und Selbstverhältnis, sondern zur Störung, die es möglichst effizient zu beheben gilt. Bildung im emphatischen Sinn – als Irritation, die eine Neuordnung verlangt – bleibt hier aus. Stattdessen begegnet uns eine Figur des Elementarschutzes: eine im Wortsinn technische Verteidigungslinie, die sowohl das Haus als auch das eigene Selbst vor dem Eindringen des Fremden zu bewahren scheint.

Im zweiten Schritt vergleichen wir Peter mit Pattie (FR277), deren Interview wir im Buch Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung ausführlich analysiert haben. Bei ihr verdichtet sich das Erleben der Flut in einer anderen symbolischen Geste: dem Sammeln der Zigarettenstummel. Diese Handlung erscheint zunächst unscheinbar, fast banal; doch gerade darin liegt ihre Kraft. Während Peter die Katastrophe durch Rationalität neutralisiert, erzeugt Pattie eine Mikro-Ordnung im Chaos, eine minimale, beinahe zärtliche Form der Wiederaneignung der Welt. Die Zigarettenstummel werden zu Indikatoren eines beschädigten Alltags, zu Spuren des zerstörten Raumes, zu Zeichen einer Umwelt, die neu gelesen werden muss. Im Vergleich dieser beiden Figuren – Elementarschutz und Zigarettenstummel – zeigt sich, wie unterschiedlich Menschen auf die Überforderungssituation einer Flut reagieren: technisch und abwehrend oder suchend und tastend; stabilisierend oder irritierbar; ordnend oder sensibilisierend.

Im abschließenden Teil diskutieren wir die Frage, ob Katastrophen überhaupt Bildungsprozesse ermöglichen oder ob das Wiederfahrnis die Bildung eher verhindert. Dabei zeichnen sich zwei Hypothesen ab. Erstens: Unmittelbar nach dem Ereignis dominiert häufig der Impuls, das „Normale“ wiederherzustellen. Diese Rückkehrbewegung – die fast schon eine anti-transformative Dynamik entfaltet – verweist darauf, dass Bildung Zeit, Freiraum und ein Mindestmaß an Sicherheit braucht. Zweitens: Sobald das Ereignis problematisiert wird, können solidarische Praktiken ins Wanken geraten. Die kollektive Energie der ersten Tage, das „Wir schaffen das zusammen“, droht zu erlahmen, wenn strukturelle Fragen sichtbar werden – etwa die politische Verantwortlichkeit oder die langfristigen ökologischen Bedingungen der Katastrophe.

Diese Überlegungen führen schließlich zu einem zentralen Punkt unserer Diskussion: Starke Katastrophen erzeugen nicht automatisch starke Reaktionen. Sie können auch Passivität, Verdrängung oder eine Art funktionale Erstarrung hervorbringen. Für die Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe bedeutet dies, dass wir nicht darauf hoffen dürfen, dass extreme Ereignisse „von selbst“ zu Bewusstseinswandel und politischem Handeln führen. Manche Menschen, wie Peter, schützen sich vor dem Fremden, indem sie es technisch neutralisieren. Andere, wie Pattie, lassen sich irritieren und finden neue Formen des Weltbezugs.

Zum Interview mit Pattie ist bereits eine Podcastfolge entstanden: Folge 138 „Fremdheit im Angesicht einer Flutkatastrophe“

In unserem Buch Katastrophenbildung (Schmidt et a. 2026) schreiben wir in Bezug auf das Interview mit Pattie: „Hier ließe sich fragen: Braucht es dazu neue Bilder, die nicht die Rückkehr in die idyllische Vergangenheit, sondern den Aufbruch in eine neue Zukunft avisieren? Vollständiger erschiene uns jedenfalls ein Bildungsprozess, in dem es nicht nur zu einer theoretischen Einordnung, sondern auch zu einer emotionalen Begeisterung für eine (gemeinsame) Zukunft gäbe, für die man dann kollektiv praktisch wird (vgl. Butler 2018). Allerdings scheint die leibliche und psychische Erschütterung ein halbes Jahr nach der Katastrophe noch zu „frisch“ zu sein, um eine gemeinsame zukunftsweisende Phantasie in die Praxis umsetzen zu können. Wenn es zentral erst einmal darum geht, die Trümmer zu beseitigen, kann eine neue kollektive Idee und Praxis wohl noch nicht entstehen, muss Politisches aus der Aktualität herausgehalten werden, um den Zusammenhalt des Aufräumens nicht zu gefährden. Bedeutsam erscheint uns hier der Gedanke, dass die (individuelle und kollektive) Erfahrung (der Katastrophe) nicht hinreichend für den Bildungsprozess erscheinen könnte, sondern wohl ergänzt werden muss um eine emotional-motivierende Zukunftsphantasie und eine ihr korrespondierende Praxis.“ (ebd., S. 63)

Transformatorische Bildung – Folge 170 „Selbstbewusste und selbstdisziplinierte Bildung. Der Weg zur veganen Ernährung.“

Im Podcastgespräch mit Emilie, das auf dem Interview mit Bettina (FR467) basiert, entfaltet sich ein dichtes, vielschichtiges Nachdenken über Ernährung als Bildungsphänomen. Die Folge beginnt mit einer grundsätzlichen anthropologischen Perspektive auf Nahrung: Essen erscheint nicht lediglich als biologische Notwendigkeit, sondern als jenes elementare Medium, durch das sich der Mensch mit der Welt verbindet – leiblich, sozial und kulturell. Entlang der einschlägigen Überlegungen der pädagogischen Anthropologie wird herausgearbeitet, dass im Akt des Essens die Natur des Körpers, die soziale Dimension der Gabe und die kulturelle Ordnung der Tischgemeinschaft ineinandergreifen. Nahrung wird so zum Ort, an dem sich Selbst-, Welt- und Fremdverhältnisse verdichten; sie bildet eine Schnittstelle, an der sich sowohl die Abhängigkeit als auch die Gestaltungsfähigkeit des Menschen zeigen. Diese Perspektive schließt direkt an die anthropologische Lektüre an, wie sie in der Hausarbeit angelegt ist: Essen ist ein Transformationsgeschehen, das den Menschen auf körperlicher Ebene umbildet, ihn in soziale Gefüge einbindet und zugleich kulturelle Bedeutungen verankert. 

Vor diesem Hintergrund richtet der Podcast den Blick auf die vier zentralen Aspekte der anthropologischen Bildungsforschung: Transformation, Trias, Kategorien sowie Performativität und Normativität. Besonders deutlich wird, wie stark der Bildungsprozess, den Bettina durchläuft, in der Spannung von Körperlichkeit, Anerkennung und moralischer Orientierung steht. Die Trias – Emotion, Praxis, Theorie – manifestiert sich in ihrem Erzählfluss in geradezu exemplarischer Weise. Ausgangspunkt bildet ein affektiver Impuls: der Wunsch nach einem gesünderen, schlankeren Körper, verbunden mit kulturell verankerten Schlankheitsnormen und Diäterfahrungen. Diese emotionalen Dispositionen werden durch soziale Einflüsse verstärkt: Familienmitglieder, Freund:innen, digitale Gemeinschaften, Trendkulturen wie der Veganuary – all dies strukturiert jene Erfahrungsräume, in denen Bettina ihre Ernährungspraxis zunehmend neu formt. Die Phase des praktischen Ausprobierens – vegetarisch, dann vegan, und zunächst getragen von Neugier und Körpergefühl – geht in eine vertiefte theoretische Auseinandersetzung über, die sich mit Tierwohl, Massentierhaltung und ethischer Verantwortung beschäftigt. Die Hausarbeit zeigt hier eindrücklich, wie sprachliche Mittel – besonders die zahlreichen singulären Inferenzen im Rückblick („rückblickend“, „im Nachhinein“) – als Marker reflexiver Distanzierung fungieren und das veränderte Selbst- und Weltverhältnis performativ sichtbar machen.

Ubiquitäre Inferenzen zeichnen sich dadurch aus, dass die Sätze und die damit einhergehenden Deutungskontexte nicht aufeinander bezogen sind, sondern additiv aneinandergereiht sind. Dabei sind ubiquitären Inferenzen der Normalfall, indem Sätze in einem Interview z. B. mit dem Wort „und“ verbunden werden oder sich verknüpfen lassen. Dem wird die singuläre Inferenz entgegengesetzt. „Die andere Disposition nenne ich die Disposition singulärer Inferenz. Sie ist die Bereitschaft, eine Information dadurch zu verarbeiten, daß aus der Vielzahl möglicher Deutungskontexte ein bestimmter – ein singulärer – herausgehoben und ins spannungsreiche Verhältnis gesetzt wird“ (ebd., S. 22). Die typische Textform für eine singuläre Inferenz wäre die Argumentation, in der verschiedene Kontexte dargestellt und gegeneinander abgewogen werden. (Schmidt et al. 2026, S. 30 in Bezug auf Rainer Kokemohr) 

Im weiteren Verlauf des Podcasts werden die anthropologischen Kategorien als analytische Linse genutzt: Der Körper steht als Resonanzraum der Transformation im Zentrum – als Ort des Begehrens, der Wahrnehmung, der Gesundheit und der Selbstformung. Das Soziale tritt sowohl als Ermöglichungs- wie als Konfliktfeld hervor: Der Vater als skeptische Figur, die Mutter und der Bruder als bestärkende Instanzen, das digitale Umfeld als Raum moralischer Orientierung. Die Kategorien von Kultur und Subjekt werden in Bettinas Erzählung dort greifbar, wo Geschmacksästehtik, Trendbewegungen und Sinnfragen ineinanderfließen. Schließlich wird sichtbar, wie sie in performativen Akten – ihrem alltäglichen Handeln, ihrem Vorleben gegenüber anderen, der Auswahl von Lebensmitteln – eine normative Selbstvergewisserung vollzieht, die weder dogmatisch noch defizitär ist, sondern eine souveräne, in sich ruhende Haltung ausdrückt.

Zum Abschluss thematisieren Emilie und ich die entstehende Bildungsfiguration. Aus dem biographischen Material lässt sich eine Figur herausarbeiten, die als selbstbewusste und selbstdisziplinierte Bildung beschrieben werden kann.

Bildungsfigurationen: Wir möchten mithin in diesem Abschnitt plausibel machen, dass sich die in unseren Interviews zeigenden sechs Bildungsprozesse in Bildern, Vorstellungen, Figuren, Konstellation oder Figurationen verdichten lassen, die für die Beteiligten – bewusst oder unbewusst – eine orientierende Funktion haben (vgl. Ode 2022).80 Dabei greifen wir noch einmal auf die Fokussierungen von Bildung zurück, die wir am Ende der einzelnen Kapitel entwickelt haben. Und wir stellen dabei fest, dass die leitenden Bilder der Bildung auf ein in der Regel altes Bildmaterial zurückgreifen, das sie aber in auffälliger Weise verändern. (Schmidt et al. 2026, S. 260-261)

(Nach dem Gespräch kam mir der Gedanke, dass man vielleicht von selbstbestimmter Bildung sprechen kann. Vielleicht trifft es die Formulierung besser.)

Bettinas Weg ist geprägt von einer stetigen, reflexiven Arbeit an sich selbst, von einem anspruchsvollen Verhältnis zwischen Lust und Disziplin, Neugier und moralischer Strenge, sozialer Einbettung und individueller Entscheidung. Sie bildet sich im Spannungsfeld von Körper, Moral und Gemeinschaft – und gestaltet eine Form des veganen Lebens, die weder asketisch noch belehrend wirkt, sondern als Ausdruck einer gereiften Selbstpositionierung erscheint. Damit wird die Folge zu einem eindrücklichen Beispiel dafür, wie Ernährungsentscheidungen biographische, soziale und kulturelle Tiefendimensionen miteinander verweben und wie Ernährung im Sinne einer anthropologischen Bildungsforschung als Ort fundamentaler Welt- und Selbstveränderung verstanden werden kann.

Literatur

Tim Schmidt, Moritz Krebs, Timur Rader, Liesa Schamel, Birgit Schulz & Jörg Zirfas (2026): Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa

Transformatorische Bildung – Folge 169 „Der Habitus der vegetarischen Ernährung“

In der Folge unterhalten sich Paul und ich über die Bedeutung des Habitus für die vegetarische Bildung anhand von zwei Interviews mit Leon (FR478) und Lisa (FR214). Ausgehend von Pauls Hausarbeit entfaltet sich ein Gespräch, das die Verschiebungen des Welt- und Selbstverhältnisses nachzeichnet, die mit der Entscheidung für eine vegetarische oder vegane Lebensweise einhergehen. Wir rekonstruieren zunächst die biographischen Hintergründe der beiden Erzähler: Leons behutsame Wandlung, die sich aus einer einzelnen Konfrontation ergab und in ein sozial gestütztes ökologisches Engagement mündete, sowie Lisas deutlich tiefer greifende Transformation, die sie aus den engen Strukturen ihres Elternhauses herausführte.

Im Gespräch erläutern wir, wie Bourdieu den Habitus als körperlich eingeschriebene Praxisform denkt und weshalb Veränderungen dort nur gegen Widerstände möglich sind. Paul zeigt, wie beide Interviews exemplarisch verdeutlichen, dass Irritationen – etwa durch eine Tierdokumentation oder den biographischen Bruch eines Auslandsaufenthalts – jene Krisen erzeugen, aus denen Bildung hervorgeht. Wir diskutieren Rosenbergs Modell der Habitustransformation durchläuft, die mehrere Logiken der Praxis umfasst.

Zugleich betonen wir die anthropologischen Dimensionen: die Rolle von Sozialität, Raum, Zeit und Grenzen bei der Ausgestaltung des neuen Lebensstils, aber auch das Spannungsverhältnis zwischen familiärer Prägung, eigenem Begehren und sozialer Anerkennung. Dadurch entsteht ein dichtes Bild davon, was vegetarische Bildung bedeutet: ein Ringen um neue Routinen, Konflikte und Freiheiten, in denen sich Menschen – oft tastend, manchmal abrupt – neu verorten.

Transformatorische Bildung – Folge 159 „Gerettete Lebensmittel: Die Geschichte einer Juristin zur Heldin“

In dieser Folge unterhalten sich Lara und ich über ein Interview (FR420), indem die Erzählerin über die Gründung eines Ladens für gerettete Leben berichtet. Eine Veränderung ihres Welt- und Selbstverhältnisses findet während ihrer Tätigkeit in Nepal statt. Wir interpretieren das Interview mit der Theorie transformatorischer Bildung nach Kokemohr/Koller und der Pädagogischen Anthropologie nach Wulf und Zirfas. Hier nutzen wir wieder die Trias von Emotion, Praxis und Theorie und und anthropologischen Kategorien Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt und Grenzen Zum Schluss diskutieren wir die Performativität und die Gestaltung des Imaginären.

Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Lara über das Interview FR420 („Gerettete Lebensmittel“) – Folge 159 (GPT)

In dieser Folge des Podcasts Transformatorische Bildung sprechen Tim und Lara über das narrative Interview FR420 mit einer Frau, die von ihrem biografischen Wandel von einer Juristin zur Gründerin eines Ladens für gerettete Lebensmittel berichtet. Der Transformationsprozess der Erzählerin wird entlang der Theorie transformatorischer Bildung (Kokemohr, Koller) und der pädagogischen Anthropologie (Wulf, Zirfas) analysiert, wobei die Konzepte Fremdheitserfahrung, Trias Emotion–Praxis–Theorie, anthropologische Kategorien und Performativität zentrale Orientierungspunkte bieten.

1. Theoretischer Rahmen und Analysemethodik

Tim und Lara betonen zu Beginn die methodische Perspektive ihres Gesprächs: Die Analyse orientiert sich am Konzept der transformatorischen Bildung, in der subjektive Wandlungsprozesse durch Irritationen, Brüche und Fremdheitserfahrungen in Gang gesetzt werden. Diese werden sprachlich strukturiert durch rhetorische Figuren sowie kulturell gerahmt durch anthropologische Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Kultur, Subjekt, Grenzen). Die Perspektive wird durch Waldenfels’ Theorie des Fremden vertieft und mit der Idee der Performativität und des Imaginären (u. a. in Anlehnung an Butler und Deleuze) verbunden.

2. Biografische Struktur: Drei Phasen der Transformation

Laras Analyse gliedert die Erzählung der Interviewten in drei zeitlich strukturierte Phasen: Vor dem Aufenthalt in Nepal, die Zeit in Nepal und die Zeit danach, in der die Gründung des Ladens für gerettete Lebensmittel erfolgt.

Phase 1: Vor Nepal – Körperliche Prägung und erste Zugänge zur Natur

Die Erzählerin berichtet von ihrer Kindheit, in der sie auf einem Gemüsefeld mitarbeiten durfte. Diese körperlich-praktische Erfahrung stellt eine erste, implizite Form von Weltverhältnis dar. Es wird als frühe Grundierung eines ökologischen Bewusstseins gedeutet, ohne dass in dieser Phase bereits ein reflektiertes Verständnis für Nachhaltigkeit vorliegt. Die anthropologischen Kategorien „Körper“, „Raum“ und „Soziales“ sind hier zentral: Elternhaus, Garten, Naturkontakt. Eine „romantische“ Vorstellung von Gerechtigkeit leitet sie schließlich zum Jurastudium, wobei bereits hier emotionale und theoretische Motive sichtbar werden.

Phase 2: Nepal – Erfahrung radikaler Fremdheit und Weltbruch

Die prägende Transformation erfolgt während ihres Aufenthalts in Nepal im Rahmen eines Masterstudiums in Human Rights. Dort arbeitet sie für eine NGO, die sich für indigene Rechte einsetzt. Besonders eindrucksvoll wird eine Szene beschrieben, in der ein Wasserlieferant nicht liefern kann, weil gleichzeitig die Elektrizität ausfällt – eine alltägliche Situation vor Ort, für die Erzählerin jedoch unbegreiflich. Ihre Reaktion – „Das ging nicht in meinen Kopf rein“ – wird als Ausdruck einer tiefgreifenden Fremdheitserfahrung gedeutet.

Diese Passage lässt sich entlang mehrerer Achsen analysieren:

  • Trias Emotion – Praxis – Theorie:

    • Emotionale Irritation über fehlende Organisation und Kontrolle,

    • praktische Ohnmacht angesichts der Zustände,

    • theoretische Reflexion über globale Ungleichheiten.

  • Anthropologische Kategorien:

    • Körper (Durst, Hygiene, Nahrung),

    • Raum (Stadtviertel, Wasserlogistik),

    • Zeit (Stundenpläne für Elektrizität),

    • Subjekt (Konfrontation mit der eigenen westlichen Perspektive),

    • Grenzen (Ohnmacht, strukturelle Begrenztheit),

    • Kultur (Gastfreundschaft, Akzeptanz von Mangel),

    • Soziales (Beziehungen zu Nachbar:innen und Kolleg:innen).

Diese Erfahrung wird als Wendepunkt gelesen, an dem sich das Selbstverhältnis neu formiert. Die Wahrnehmung des Wassers als existenzielles Gut wird in einer metonymischen Figur greifbar: Wasser als konkrete Notwendigkeit und als symbolisches Element des Imaginären.

Phase 3: Rückkehr und Handlung – Gründung des Ladens

Nach der Rückkehr verändert sich das Handeln der Erzählerin radikal. Sie distanziert sich vom juristischen Beruf, beginnt mit dem „Containern“ (Lebensmittelrettung aus Müllcontainern) und gründet schließlich einen eigenen Laden, in dem Lebensmittel nach einem „Zahl-was-du-kannst“-Prinzip weitergegeben werden. Dieses Handeln wird als Performativität des Imaginären gedeutet: Die Erzählerin erschafft durch symbolisches Handeln einen neuen sozialen Raum, in dem nachhaltiges Wirtschaften, Gerechtigkeit und Ethik konkret erfahrbar werden.

Die Grenzüberschreitung, die mit dem Containern verbunden ist (illegalisierte Praxis), verdeutlicht zudem eine Neuausrichtung des Subjektverhältnisses: Die Erzählerin handelt entgegen normativen Erwartungen und verleiht ihrer Überzeugung durch öffentliches, praktisches Handeln Ausdruck. Es ist nicht nur die Reflexion, sondern die Verkörperung eines anderen Weltbezugs, der hier zur Sprache kommt.

3. Performativität und Imaginäres

Zum Abschluss des Gesprächs diskutieren Tim und Lara, inwiefern die Transformation der Erzählerin auch eine Gestaltung des Imaginären darstellt. Die Interviewte schafft neue symbolische Ordnungen, indem sie konkrete Praktiken (z. B. den Laden) etabliert, die jenseits des dominanten Wirtschaftssystems stehen. Dabei wird sichtbar, wie performative Handlungen neue Bedeutungsräume erschließen und wie Bildung nicht nur in der Reflexion, sondern in der leiblich-symbolischen Weltgestaltung vollzogen wird.

 

Das Interview steht thematisch im Zusammenhang mit den vorherigen Podcast-Folgen.

Folge 157: Ausbruch aus dem Käfig der Normalität und Leben in der Jurte“

Folge 158:„Die Geschichte einer Aussteigerin: Leben in den Bäumen“