In dieser Folge spreche ich mit Mara über zwei sehr unterschiedliche Weisen, auf eine Katastrophe zu antworten – und darüber, was wir aus diesen Kontrasten für eine anthropologische Bildungsforschung lernen können. Der erste Teil der Episode folgt noch einmal der klassischen Struktur unseres Ansatzes: Wir diskutieren die vier Dimensionen – die transformatorische Perspektive mit Bezug auf Bernhard Waldenfels, die Trias von Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas 2021), die sieben anthropologischen Kategorien nach Wulf und Zirfas, sowie Performativität und Normativität als grundlegende Formen menschlicher Selbst- und Weltgestaltung. In dieser theoretischen Rahmung bewegen wir uns dann in die empirische Analyse hinein.
Im Zentrum steht zunächst das Interview mit Peter (FR480). Wir gehen der Frage nach, ob es in seinem Erleben der Flutkatastrophe 2021 zu einem transformatorischen Bildungsprozess gekommen ist. Die Antwort darauf fällt – überraschend und zugleich aufschlussreich – verneinend aus. Peters Erzählung zeichnet sich durch eine konsequente Rationalisierung aus: Er überspringt nahezu alle emotionalen Regungen, geht unmittelbar in die Praxis des Bewältigens über, ordnet, strukturiert, organisiert. Nichts wird zu schwer, nichts zu groß; vielmehr erscheint alles als technische Aufgabe, die gelöst werden kann. Die Katastrophe wird nicht zum Bruch im Welt- und Selbstverhältnis, sondern zur Störung, die es möglichst effizient zu beheben gilt. Bildung im emphatischen Sinn – als Irritation, die eine Neuordnung verlangt – bleibt hier aus. Stattdessen begegnet uns eine Figur des Elementarschutzes: eine im Wortsinn technische Verteidigungslinie, die sowohl das Haus als auch das eigene Selbst vor dem Eindringen des Fremden zu bewahren scheint.
Im zweiten Schritt vergleichen wir Peter mit Pattie (FR277), deren Interview wir im Buch Katastrophenbildung. Entwurf einer anthropologischen Bildungsforschung ausführlich analysiert haben. Bei ihr verdichtet sich das Erleben der Flut in einer anderen symbolischen Geste: dem Sammeln der Zigarettenstummel. Diese Handlung erscheint zunächst unscheinbar, fast banal; doch gerade darin liegt ihre Kraft. Während Peter die Katastrophe durch Rationalität neutralisiert, erzeugt Pattie eine Mikro-Ordnung im Chaos, eine minimale, beinahe zärtliche Form der Wiederaneignung der Welt. Die Zigarettenstummel werden zu Indikatoren eines beschädigten Alltags, zu Spuren des zerstörten Raumes, zu Zeichen einer Umwelt, die neu gelesen werden muss. Im Vergleich dieser beiden Figuren – Elementarschutz und Zigarettenstummel – zeigt sich, wie unterschiedlich Menschen auf die Überforderungssituation einer Flut reagieren: technisch und abwehrend oder suchend und tastend; stabilisierend oder irritierbar; ordnend oder sensibilisierend.
Im abschließenden Teil diskutieren wir die Frage, ob Katastrophen überhaupt Bildungsprozesse ermöglichen oder ob das Wiederfahrnis die Bildung eher verhindert. Dabei zeichnen sich zwei Hypothesen ab. Erstens: Unmittelbar nach dem Ereignis dominiert häufig der Impuls, das „Normale“ wiederherzustellen. Diese Rückkehrbewegung – die fast schon eine anti-transformative Dynamik entfaltet – verweist darauf, dass Bildung Zeit, Freiraum und ein Mindestmaß an Sicherheit braucht. Zweitens: Sobald das Ereignis problematisiert wird, können solidarische Praktiken ins Wanken geraten. Die kollektive Energie der ersten Tage, das „Wir schaffen das zusammen“, droht zu erlahmen, wenn strukturelle Fragen sichtbar werden – etwa die politische Verantwortlichkeit oder die langfristigen ökologischen Bedingungen der Katastrophe.
Diese Überlegungen führen schließlich zu einem zentralen Punkt unserer Diskussion: Starke Katastrophen erzeugen nicht automatisch starke Reaktionen. Sie können auch Passivität, Verdrängung oder eine Art funktionale Erstarrung hervorbringen. Für die Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe bedeutet dies, dass wir nicht darauf hoffen dürfen, dass extreme Ereignisse „von selbst“ zu Bewusstseinswandel und politischem Handeln führen. Manche Menschen, wie Peter, schützen sich vor dem Fremden, indem sie es technisch neutralisieren. Andere, wie Pattie, lassen sich irritieren und finden neue Formen des Weltbezugs.
Zum Interview mit Pattie ist bereits eine Podcastfolge entstanden: Folge 138 „Fremdheit im Angesicht einer Flutkatastrophe“
In unserem Buch Katastrophenbildung (Schmidt et a. 2026) schreiben wir in Bezug auf das Interview mit Pattie: „Hier ließe sich fragen: Braucht es dazu neue Bilder, die nicht die Rückkehr in die idyllische Vergangenheit, sondern den Aufbruch in eine neue Zukunft avisieren? Vollständiger erschiene uns jedenfalls ein Bildungsprozess, in dem es nicht nur zu einer theoretischen Einordnung, sondern auch zu einer emotionalen Begeisterung für eine (gemeinsame) Zukunft gäbe, für die man dann kollektiv praktisch wird (vgl. Butler 2018). Allerdings scheint die leibliche und psychische Erschütterung ein halbes Jahr nach der Katastrophe noch zu „frisch“ zu sein, um eine gemeinsame zukunftsweisende Phantasie in die Praxis umsetzen zu können. Wenn es zentral erst einmal darum geht, die Trümmer zu beseitigen, kann eine neue kollektive Idee und Praxis wohl noch nicht entstehen, muss Politisches aus der Aktualität herausgehalten werden, um den Zusammenhalt des Aufräumens nicht zu gefährden. Bedeutsam erscheint uns hier der Gedanke, dass die (individuelle und kollektive) Erfahrung (der Katastrophe) nicht hinreichend für den Bildungsprozess erscheinen könnte, sondern wohl ergänzt werden muss um eine emotional-motivierende Zukunftsphantasie und eine ihr korrespondierende Praxis.“ (ebd., S. 63)