Aysel und ich unterhalten uns über ein narratives Interview mit Nadine*, die ihre Drogen- und Alkoholsucht mit Hilfe der Anonyme Alkoholiker überwindet. Dabei beziehen wir uns auf verschiedene Theorien.
- Koller unterscheidet zwischen Welt, Anderen und Selbstverhältnis.
- Zirfas zwischen Emotion, Praxis und Theorie
- Lacan zwischen Reales, Symbolisches und Imaginäres (RSI)
Dieses kombinieren wir mit den anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Zeit, Raum, Kultur, Subjekt in seinen Grenzen aus dem Handbuch Pädagogische Anthropologie.
Als Frage im Hintergrund steht, inwiefern man in der Kombination aus Pädagogische Anthropologie und transformatorischer Bildung anhand narrativer Interviews eine Anthropologische Bildungsforschung entwickelt werden könnte und welche methodischen Zugänge dazu relevant sein könnten.
Zusammenfassung des Podcast-Gesprächs mit Aysel über das Interview mit Nadine – Folge 155 GPT
In dieser Folge analysieren Tim und Aysel ein narratives Interview mit Nadine*, die über ihre langjährige Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie über ihren Genesungsweg mithilfe der Anonymen Alkoholiker berichtet. Im Zentrum steht die Frage, wie sich tiefgreifende biografische Brüche und Heilungsprozesse als Bildungsprozesse im Sinne transformatorischer Bildung rekonstruieren lassen. Zugleich wird diskutiert, wie sich aus der Kombination von transformatorischer Bildung und pädagogischer Anthropologie ein methodischer Zugang zur anthropologischen Bildungsforschung entwickeln lässt.
1. Theoretischer Rahmen: Drei Triaden als Analyseraster
Die Analyse stützt sich auf drei Theorieachsen:
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Transformatorische Bildung nach Koller (Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis),
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Trias von Emotion, Praxis, Theorie (Zirfas),
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Lacans Register RSI (Reales, Symbolisches, Imaginäres).
Diese werden ergänzt durch die anthropologischen Kategorien (Körper, Raum, Zeit, Soziales, Kultur, Subjekt, Grenze), wie sie im Handbuch Pädagogische Anthropologie (Wulf/Zirfas) systematisiert wurden.
2. Nadines Biografie: Von der Leerstelle zur Transformation
Nadine beschreibt eine frühe existenzielle Entfremdung, beginnend mit der Aussage ihrer Mutter, sie sei kein Wunschkind. Dieses Erlebnis markiert einen biografischen Bruch, den sie mit dem Gefühl „nicht dazuzugehören“ verbindet. Dieses Gefühl zieht sich durch ihre Jugend und wird zur prägenden Phantasie ihres Welt- und Selbstverhältnisses – ein fixiertes Phantasma im Sinne Lacans.
Ihr Weg in die Drogenszene beginnt früh: Sie konsumiert ab 13/14 Jahren Alkohol und Drogen, arbeitet später als DJ in der Partyszene. Der Drogenkonsum wird dabei zu einem imaginären Instrument, mit dem sie versucht, das Gefühl der Isolation zu kompensieren und ein alternatives Selbstbild als „coole, beliebte Frau“ zu erzeugen.
3. Lacan: RSI in der Analyse
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Imaginäres: Nadine identifiziert sich mit dem Bild einer starken, begehrenswerten Frau in der Partyszene. Alkoholiker sind für sie zunächst „Assis“, Drogenkonsumenten hingegen „cool“. Das zeigt die Macht der Bilder und Zuschreibungen in der Identifikation.
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Symbolisches: Erst in den Meetings der Anonymen Alkoholiker beginnt sie, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Sprache eröffnet ihr neue Deutungsmuster und soziale Ordnungen. Das Sprechen selbst wird zur symbolischen Praxis, die das Imaginäre unterbricht.
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Reales: Das Reale manifestiert sich in Erfahrungen, die sich dem Symbolischen entziehen – körperliches Leiden, Kontrollverlust, das Erleben als „Substanz eingefahren“. Diese Momente sind traumatisch, unbenennbar, aber dennoch zentral für die Transformation.
4. Trias von Emotion, Praxis, Theorie
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Emotion: Scham, Einsamkeit, das Gefühl „nicht gewollt“ zu sein.
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Praxis: Partyleben, DJ-Karriere, Substanzkonsum, später Meetings bei den AA.
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Theorie: Reflexion über ihre Biografie, über Sucht, über das Verhältnis zur Familie und zu sich selbst – insbesondere im Rückblick.
Diese Trias strukturiert den Bildungsprozess als Bewegung von affektiver Dissoziation über konkrete Krisenpraktiken hin zur narrativen Integration und Deutung.
5. Anthropologische Kategorien
Die Erfahrungen Nadines lassen sich durch die anthropologischen Kategorien differenzieren:
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Körper: Der Körper ist Ort der Sucht, des Begehrens und der Abstinenz. Auch der Schwangerschaft kommt eine transformatorische Bedeutung zu.
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Raum: Clubs, Partyszene, die Meetingsräume der AA – Räume konstituieren den Wandel des Weltbezugs.
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Zeit: Die Erzählung gliedert sich deutlich in Vorher-Nachher, markiert durch Übergänge, Rückfälle und Einsichtsmomente.
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Soziales: Isolation, Gruppenzugehörigkeit, spätere Anerkennung in der Gemeinschaft der AA.
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Kultur: Der Unterschied zwischen Partykultur, Konsumkultur und der symbolischen Kultur der AA wird zum Bildungsfeld.
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Subjekt: Nadine wird im Interview als sprechendes Subjekt sichtbar – nicht mehr Objekt von Zuschreibungen, sondern Erzählerin ihrer Wandlung.
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Grenzen: Zwischen Imagination und Realität, Zugehörigkeit und Einsamkeit, Sucht und Abstinenz – das Interview kreist um Grenzerfahrungen.
6. Bildungsforschung als methodische Synthese
Im Hintergrund eures Gesprächs steht die methodische Frage: Wie kann aus der Verbindung von transformatorischer Bildung, Lacan und pädagogischer Anthropologie eine eigenständige anthropologische Bildungsforschung entstehen?
Die Folge zeigt, wie ein methodischer Zugang aussehen kann:
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Narrative Interviews als Zugang zu biografischer Selbstdeutung,
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Mehrdimensionale Theorieraster (RSI, Trias, anthropologische Kategorien) zur Strukturierung,
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Interpretation rhetorischer Figuren als Zugang zu Transformationsmomenten,
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und eine sensible Hermeneutik des Unaussprechlichen, die das Reale, das Nicht-Repräsentierbare mitdenkt.