Dean und ich unterhalten uns über die „Erfahrungen einer Mutter im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus“, die sie im narrativen Interview (FR436) erzählt. Wie gehen zunächst auf die Vorgehensweise der anthropologischen Bildungsforschung ein. Diese besteht aus den vier Schritten.
- Transformation nach Kokemohr und Koller
- Die Trias von Emotion, Praxis und Theorie nach Zirfas
- Die sieben anthropologischen Kategorien: Körper, Soziales, Raum, Zeit, Subjekt, Kultur und Grenzen nach Wulf und Zirfas
- Die Performativität und Normativität der biographischen Erzählung.
Wir besprechen das Interview mit der Theorie des Fremden von Waldenfels.
Zusammenfassung der Folge mit GPT
In der Podcast-Folge 163 diskutieren Dean und der Moderator anhand des narrativen Interviews FR436 die biographische Erfahrung einer Mutter („Maria“) im Kontext der Diagnose frühkindlicher Autismus bei ihrem Sohn („Timo“). Die Reflexion erfolgt im Rahmen der anthropologischen Bildungsforschung und integriert zentrale theoretische Bezugspunkte: die Theorie der transformatorischen Bildung (Kokemohr/Koller), die Trias aus Emotion, Praxis und Theorie (Zirfas), die sieben anthropologischen Kategorien (Körper, Soziales, Raum, Zeit, Subjekt, Kultur, Grenzen) sowie den Begriff der Performativität und Normativität der biografischen Erzählung. Ergänzend wird die Theorie des Fremden von Bernhard Waldenfels zur Analyse herangezogen.
Das Gespräch beginnt mit einer methodischen Einordnung der anthropologischen Bildungsforschung. Transformation wird dabei als eine Umgestaltung des Welt- und Selbstverhältnisses verstanden, die in krisenhaften Situationen erfolgt und sich sprachlich unter anderem durch rhetorische Figuren ausdrückt. Im Zentrum des Interviews steht eine tiefgreifende Fremdheitserfahrung: Die Mutter, die bereits ein älteres Kind hat, erlebt den jüngeren Sohn als „anders“, als nicht einfügbar in ihre bisherigen pädagogischen und normativen Vorstellungen von Entwicklung. Diese Andersartigkeit manifestiert sich früh: Timo zeigt Rückzugstendenzen, sprachliche Stagnation und eine hohe Lärmempfindlichkeit. Die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ markiert in dieser Hinsicht nicht nur eine medizinische Kategorie, sondern auch eine symbolische Schwelle – eine sprachliche Form, das Fremde überhaupt erst zu benennen.
Das Interview zeichnet die Transformation der Mutter nach: von einer Phase der emotionalen Erschütterung, Trauer und Angst hin zu einem aktiven, lernenden und suchenden Subjekt, das sich Wissen aneignet, Netzwerke erschließt und Handlungsräume eröffnet. Die Praxis steht hierbei im Mittelpunkt. Die Mutter organisiert Fördermaßnahmen, sucht geeignete Schulformen, koordiniert Unterstützungsstrukturen (u.a. durch einen langfristig konstanten Integrationshelfer) und verhandelt gesellschaftliche Teilhabe für ihren Sohn. Dabei wird deutlich, dass Bildung hier nicht primär durch Reflexion im engeren Sinne erfolgt, sondern durch das tätige und fürsorgliche Eingreifen in konkrete Lebensverhältnisse – eine performative Praxis, die zugleich emotionale und kognitive Verarbeitungsprozesse trägt.
In der Reflexion über das Interview wird deutlich, dass die Fremdheit nicht verschwindet, sondern bleibt – wie es Waldenfels beschreibt – als ein „Antwortverlangen“ des Anderen, das nie vollständig eingelöst werden kann. Auch nach vielen Jahren bleibt bei der Mutter eine grundlegende Ungewissheit über die Zukunft ihres Sohnes bestehen. Doch im Verlauf des Interviews zeigt sich eine Verschiebung der Perspektive: Die Fremdheit wird nicht mehr ausschließlich als Bedrohung, sondern auch als Teil einer existenziellen Aufgabe angenommen. In einem bemerkenswerten Schlussabschnitt deutet die Mutter ihr Handeln theologisch-existenziell um: Vielleicht sei es ihre Aufgabe, diesem Kind zur Seite zu stehen – eine Haltung, die sowohl Haltungskraft als auch Annahme des Nichtverstehbaren ausdrückt.
Die Analyse des Interviews macht sichtbar, wie sich Bildungsprozesse im Alltag von Eltern vollziehen – nicht als idealtypische Fortschrittsgeschichten, sondern als komplexe, oft widersprüchliche Bewegungen zwischen Verunsicherung, Widerstand, Sinnsuche und Engagement. Die anthropologischen Kategorien bieten dabei ein heuristisches Raster, um die Erfahrungen der Mutter als leiblich (Körper), sozial eingebunden (Soziales), räumlich und institutionell verortet (Raum, Kultur), subjektiv transformierend (Subjekt) und normativ verhandelt (Grenzen) zu beschreiben.
Die Folge ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich durch die Perspektive der anthropologischen Bildungsforschung Bildungsprozesse rekonstruieren lassen, die nicht in klassischen Bildungskontexten stattfinden, sondern im biographischen Umgang mit Krise, Sorge und dem Anderen als Fremden.